http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zs_para1927/0682
662 Zeitschrift für Parapsychologie. 11. Heft. (November 1927.)
Schlössern sich zeigt, wobei eine hierzu veranlagte Person im Zustand einer Be*-
wußtseinseinengung Geschehnisse erregender Art schaut, die sich dort vor langer
Zeit abgespielt haben.
Die stark ins einzelne gehende Schilderung der Visionen von
Therese N. sind teils dem Wortlaute, meistens dem Sinne nach übereinstimmend
mit dem Inhalte der „Betrachtungen" über das Leiden Jesu in dem Gebetbuch
„Gethsemane und Golgatha" von H. H. K. Rolfus (Verlag Benzinger in Einsiedeln
, Schweiz). Im Vorwort dieses Buches heißt es wörtlich: „Die Betrachtungen
betreffend, wird — um dem Dekret des Papstes Urban VIII. nachzukommen
— erklärt, daß dieselben, insoweit sie nicht in der heiligen Schrift
selbst oder in der Lehre von Entscheidungen der heiligen Kirche begründet sind,
keinen Anspruch auf geschichtliche Wahrheit machen und für sich keine andere
als nur menschliche Autorität verlangen, und für nicht anderes gelten wollen als
eben für eine fromme Betrachtung«- und Anschauungsweise einer gottliebenden
Klosterfrau, einer innigen Verehrerin des leidenden Gottm^nschen. Und dies
war Anna Katharina Emmerich allerdings in hohem Grade."
Ueber die Lebensgeschichte der im Jahre4 1774 geborenen und 1824 gestorbenen
stigmatisierten Nonne K. Emmerich zu Dülmen in Westfalen berichtete
eingehend Klemens Brentano (gest. i843), der selbst im ersten Satz seiner Darlegungen
„feierlich gegen den mindesten Anspruch auf den Charakter historischer
Wahrheit der Betrachtungen protestiert".
Bezüglich der Visionen der K. Emmerich äußert sich ferner Msgre. Laurenz
Richen, Stiftsherr in Aachen, in den „Biblischen Studien", 21. Band, i.Heft
(Verlagsbuchhandlung Herder & Co. in Freiburg i. Br. 1923), am Schlüsse seiner
Kritik: „Was die seit einem Jahrhundert so stark verbreiteten Visionen selbst angeht
, können wir unmöglich zu einem anderen Endresultat kommen als diesem:
Bei den so ungemein zahlreichen, fast von Seite zu Seite sich fortpflanzenden
Irrtümern ist höherer Ursprung bei ihnen ausgeschlossen. Die fielen fremden,
kleinen, ja oft kleinlichen Zutaten stehen dem Gotieswort sogar manchmal
peinlicn fremd und Abbruch tuend entgegen." In der Einleitung seiner Ausführungen
schreibt Msgre. Richen: „Das fromme, ja heiligmäßige Leben der
Trägerin solcher Privatotfenbarungen bietet keinen unbedingten Schutz gegen
Täuschungen, kann vielmehr je nach der körperlichen oder geistigen Verfassung
# der geeignete Nährboden für dieselben sein, vor allem, wenn unvernünftige
Kasteiungen, mangelnder Schlaf, ungenügende Ernährung, krankhafte neurotische
Zustände erzeugen oder vorhandene weiter entwickeln. Kommt dann noch
aufsehenerregende Anerkennung der Außenwelt hinzu, so sind die Vorbe«-
dingungen noch günstiger, um die Selbsttäuschungen zu steigern und dauernd
werden zu lassen."
Betont sei, daß die das Gemüt aufpeitschenden Vorkommnisse besonders
bei der Geißelung und Kreuzigung in den Schilderungen der K. Emmerich, der
Therese Neumann und in den Betrachtungen im Gebetbuche in der Hauptsache
übereinstimmen. Wenn man diese Schilderungen durchsieht, wird es unschwer
verständlich, daß bei empfindlichen Personen durch die organisierende
und gestaltende Kraft der Seele entsprechend den innerlich geschauten Bildern
Auswirkungen im Bereich des Körperlichen auch in Form von „Stigmatisationen
" stattfinden können. Starke Affekte und Gemütswallungen der Lust oder
Unlust fördern solche Erscheinungen.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zs_para1927/0682