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Neugarten: Zum Problem der Stigmatisationen.
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auf der Haut mehrfach suggestiv erzeugt wurden (Jendrassik, Krafft-Ebing,
Alrutz, I. H. Schultz u. a.).
Die starke Abhängigkeit der Stigmatisierten von psychischen Faktoren aber
beweist das bei allen vorhandene lange Krankenlager mit einer Fülle psychogener
Symptome1), wie Krampf zuständen. Erbrechen, Lähmungen, Störungen
der Sinneswahrnehmungen usw. In der Literatur wird ein Teil der Leiden
der Stigmatisierten denn auch stets als Hysterie bezeichnet. Es ist wohl
zweckmäßiger, sich auf den Begriff ,,psychogen" zu beschränken, einmal, weil
von vielen mit Hysterie die verschiedensten Formen von Neurose bezeichnet
werden, und dann, um eine Wertung, die dem Wort Hysterie für das Gefühl
vieler anhaftet, auszuschalten. Zur weiteren Beurteilung des Stigmatisationsproblems
sind noch folgende drei Tatsachen wichtig:
1. Die Stigmatisation ist nicht unbedingt an ein sittliches Verhalten der
Stigmatisierten geknüpft. Jacobi zitiert nach Lombroso 2) zwei Fälle, in denen
liederliche Mädchen die Stigmen empfingen. Von einer heißt es trotzdem ausdrücklich
, daß sie innige Liebe für Christus hegte.
2. Es kommen Stigmatisationen bzw. deren Analogon auch unter anderen
als katholisch-religiösen Erlebnisformen vor, so in der Sekte der Janse-
nisten und auch bei den Mohammedanern. Diese empfangen die Wunden, die
Mohammed in den Schlachten erhielt.
3. Unabhängig von jedem religiösen Erleben sind Fälle, die den Stigmatisationen
entsprechen, beobachtet worden.
So wird berichtet8), daß ein Mann, der i8i3 in Moskau den Kampf eines
Kosaken und eines Franzosen in einer Sackgasse mit ansehen mußte, die blutenden
Wunden erhielt, die der Kosak dem Franzosen beibrachte. Noch interessanter
ist ein anderer Fall, der besonders gut beglaubigt sein soll4.) Ein Mädchen erlebt
— örtlich entfernt — das Spießrutenlaufen ihros Bruders, eines Soldaten,
in Ekstase mit und hat danach blutende Wunden auf dem Rücken. Daneben gibt
es weniger deutlich ausgeprägte Fälle: ein junger Mann bekommt blaue Flecke
beim Anblick einer Hinrichtung durch das Rad, an den Stellen, wo der Delinquent
getroffen wurde5), oder: eine Dame fürchtet, daß der Fuß ihres Kindes
durch eine zufallende, eiserne Tür gequetscht wird; sie bekommt um ihre Knöchel
rote Streifen und ihr Fuß schwillt an6). Diese Fälle bilden den Uebergang
zu jenen allgemein bekannten, in denen ein Schmerz oder ähnliches nachempfunden
wird.
Auch hierbei ist es ja keineswegs immer nur eine momentane Nachempfindung
, es treten oft vorübergehende Funktionsstörungen subjektiver und objektiver
Art, z. B. Hinken, Aenderungen der normalen Sekretion (Speichel, Magensaft
) auf. Als Beispiel für die weitgehende physische Aus Wirkungsmöglichkeit
psychischer Faktoren ist aus dem Gebiete der Pathologie noch besonders der
neurotische Brand zu nennen. Weiteres Material in dieser Hinsicht bietet Bunne-
D. h. Symptome aus seelischen Ursachen.
2) Hypnotische und spiritistische Forschungen. I. Hoffmann, Stuttgart.
3) Blätter aus Prevorst, Stuttgart. 4. Sammlung, zit. n. Jacobi.
Dr. Pabst: Ein Wort über die Ekstase. 1834, S. 19, zit. n. Jacobi.
5) Du Prel: Die Magie als Naturwissenschaft; II. Teil: Die magische Psychologie
, Jena 1899, zit. n. Jacobi.
6) Hack Tuke: Körper und Geist; übersetzt v. Dr. H. Kronfeld, Jena 1888.
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