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Neugarten: Zum Problem der Stigmatisationen
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bunden, offenbar einem Furunkel im rechten Gehörgang Karsamstag öffnet
er sich und es entleert sich Eiler. Schon 1923 und 2k haben auch die Augen lan-*
läßlich einer Entzündung etwas geblutet. — Der Versuch, die Stigmatisations-
wunden mit Salbenverbänden zu heilen, mißlingt; unerträgliche Schmerzen
zwingen Therese, die Verbände wieder abzunehmen. Einfache Leinwandstücke
bringen ihr Linderung. Es tritt, wie in allen Fällen von Stigmatisation keine
Eiterung auf; die Wunden bleiben unverändert. Am 17. April 1926 bildet sich,
nachdem die hl. Therese um einen Ratschlag für die Behandlung der Wunden
gebeten worden ist, ein dünnes Häutchen über den Wunden. Seit Himmelfahrt
1926 — sie sah auch visionär die Himmelfahrt Christi — bluten Hände und
Füße nicht mehr; in letzter Zeit nur noch die Seitenwunde und die Augen. Die
Wunden an Händen und Füßen werden als kaum zehnpfennigstückgroß angegeben
, sie befinden sich an den Rückseiten (dorsal) und sind nicht durchgehend.
Bezüglich des Fastens berichtete v. Weisl im August d. J., sie nehme nach den
Angaben seit sieben Monaten täglich nur ein Stückchen Hostie und einen Teelöffel
Wasser zur Kommunion. Schon seit 1922 soll sie vorher nur wenig Flüssiges
genossen haben, ohne wesentlich abzunehmen.
Betrachtet man zunächst die Leidensgeschichte der Therese Neumann vom
medizinischen und psychiatrischen Standpunkt, so wird man keinen Augenblick
darüber im Zweifel sein, daß es sich bei ihr in der Hauptsache um psychogene
Erkrankungen gehandelt hat2). Krampfanfälle, Lähmungen, Schmerzen, Blind-
*heit, Gehörverlust und alles andere entspricht ganz dem, was dem Arzte auf
diesem Gebiete immer wieder begegnet. Da diese Leiden lediglich auf falschen
seelischen Schaltungen — um es ganz allgemein auszudrücken — beruhen,
können sie jeden Augenblick auch wieder aufgehoben werden, und das ist in solchen
Fällen oft genug durch ärztliches Eingreifen bewirkt worden. An diesen
vielen Leiden sehen wir, wie stark bei Therese Seelisches sich körperlich
auswirkt, und um so besser finden wir auch die Stigmatisationen begreiflich.
Von diesem Standpunkt aus kann man nicht weiter kommen, als die Erscheinungen
der Stigmatisation in die als Grundtatsachen anerkannten Rubriken psv-
chogen, autos^estiv, Wirkung der Einbildungskraft einordnen. DaVei
weiß man, daß das Zustandekommen der Wirkungen nicht von klar-bewußten 4)
Vorgängen abhängt. Das Nichtheilen der Wunden würde auch autosuggestiv
erklärt werden können. Warum aber kommt es zu keiner Infektion? Liegt hier
etwas Einzigartiges, wie Grabinski zu glauben scheint, vor? Dies ist nicht der
Fall. Erinnern wir uns, daß auch moderne Fakire — man sah in Berlin in
Schon 1923 und 1924 hat sie ein Ohrleiden mit Eiterung gehabt.
*) In einem Rentengutachten ist das Leiden als Hysteria traumatica bezeichnet
worden.
3) Durch diese wissenschaftlichen Einordnungen wird dem an sich immer wunderbaren
Naturgeschehen der Erlebnischarakter des Wunderbaren genommen. (Man
erinnert sich dessen oft zu wenig.) Solange aber eine Naturerscheinung, die sich
nicht einordnen läßt, noch nicht als Grundtatsache anerkannt ist, existiert
sie für die offizielle Wissenschaft nicht. (Man denke an den Kampf um Suggestion
und Hypnose.) Ein Wunder kann es also für sie nicht geben. Auch für das seltsamste
Naturgeschehen läßt sich schließlich irgendein mitwirkender Mechanismus
finden oder neu erfinden. Auf ihn wird dann das ganze Phänomen bezogen, wie der
jetzige Fall von Dr. F. A. Theilhaber (Berlin) auf eine skorbuitische Erkrankung.
Das naturwissenschaftliche Erklären ist somit nichts anderes als ein Deuten.
4) Da einige wenige Psychiater auch heute noch das Unbewußte ablehnen,
wähle ich hier diese allgemeine Formulierung.
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