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674 Zeitschrift für Parapsychologie. 11. Heft. (November 1927.)
daß sie in ihren, an die heilige Therese gerichteten Gebeten um Heilung fast
jedesmal auf die Mutter verweist: „Ihr sei es ja egal, aber der Mutter wegen ..
In diesem Sinne betet sie. Offenbar entspringt ihr Leiden zu einem guten Teil
einem unbewußten Schuldgefühl gegenüber der Mutter. Das schicksalhafte
Oedipuserlebnis x) läßt dieses ohne weiteres vermuten, und die Fehlleistung
mit den Saatkartoffeln kann gleichfalls darauf hinweisen. Wenn nun die Mutter
immer wieder ihre Gesundung wünscht, und die Krankheit beseitigt sehen
möchte, kann auch Therese endlich die neurotische Selbstbestrafung aufgeben-
Sie darf dann ihre Schuld als gesühnt betrachten. — Ihre unbewußten Versündigungsvorstellungen
und Sühnetendenzen gehen auch daraus hervor, daß
sie sich in den Krämpfen die Zähne zerstört, durch die sie sich vor ihren Geschwistern
bevorzugt glaubt.
Die Bedeutung der kleinen heiligen Therese für die Psyche ihrer Verehrerin
ist wohl die, daß jene das „Ideal-Ich" der frommen, kranken Therese Neumann
darstellt. Darum müssen psychologisch die Heilungen von ihr ausgehen, sozusagen
sanktioniert werden. — Doch das wiedererlangte psychophysische Gleichgewicht
bleibt nicht lange bestehen; zu mächtig scheinen die früher gut verdrängten
seelischen Tendenzen nach Wirkung zu verlangen. Jetzt aber erscheinen
sie nicht als bloße Krankheiten, sondern sie wirken sich im Dienste einer
religiösen Idee aus, sie finden in dieser Verwendung ihre „Sublimierung*'. Es
gelingt dem unbewußten Ich der Therese, sich ganz mit Christus zu identifizieren,
vor allem mit dem leidenden Christus, wie er in ihrem Unbewußten als Vorstellung
vorhanden ist. Dieser geht völlig in ihr Ich-Ideal ein und formt von
dort auch den Körper (Stigmen). Uebrigens ist der Prozeß der Identifizierung
ein Mittel, sich einer erotischen Strebung zu erwehren (die natürlich lediglich
unbewußt sein kann). Wir wissen ja, daß bei manchen religiösen Schwärmerinnen
Schwangerschaftsphantasien auftraten, oder daß sie Darstellungen des
kindlichen Jesus wie ein eigenes kleines Kind behandelten und ihm die Brust
darboten. Das nennt man psychoanalytisch die Wiederkehr des Verdrängten
im Symptom. — Die Wirkung des Prozesses der Identifizierung kann man daran
gleichnishaft erkennen, daß Schüler, denen ihr Lehrer ein Vorbild ist, sich unbewußt
nach ihm formen, oder daß ergebene Diener oft unbewußt Eigenarten
ihrer Herren annehmen. Natürlich kann beides auch manchmal bewußt geschehen
, aber dann wirkt es unecht und gezwungen, während durch unbewußte
# Wirkung das, womit man sich identifizierl, tatsächlich ein Teil der Persönlichkeit
wird. So unterscheidet sich schauspielerisches Künstlertum von Dilettantismus
. — Bezüglich der Aeußerung sadistisch-masochistischer Tendenzen im religiösen
Kult überhaupt lassen sich aus allen Kulturkreisen historische Beispiele
anführen (Kindesopfer, Kasteiungen usw.). Zeitlich am nächsten steht uns
wohl die Epidemie des religiösen Flagellantismus im Mittelalter, bei der sich die
Geißelbrüder zur Abbüßung ihrer Sünden öffentlich blutig geißelten. —
Zur Psychoanalyse des Fastens wäre zu sagen, daß hiermit gleichfalls ein
für Th. das oben erwähnte konstitutionelle Moment zu, worauf die linksseitigen
Symptome hinweisen, dann würde die später zu besprechende Identifizierung mit
Christus aus zwei Strebungen sich herleiten und die Intensität besonders erklärlich
werden, aus der weiblichen, für die er zunächst Liebesobjekt ist und aus der männlichen
, die sich p r i m ä r mit ihm identifiziert.
!) Liebe und Begehren des andergeschlechtlichen Teils der Eltern, Haß und
Jodeswünsche gegenüber dem gleichgeschlechtlichen Teil.
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