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Neugarten: Zum Problem der Stigmatisationen
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symbolischer Sexualakt bzw. ein Sexualakt auf einer tieferen Stufe der Entwicklung
abgewehrt wird1). Oekonomisch bedeutet es eine Ersparnis an Libido,
die dann wohl zur Erzeugung der Stigmen verwandt werden dürfte. Eine Reihe
von Tatsachen läßt es als sicher erscheinen, daß Libido im Sinne Freuds als
Energie jedes parapsychischen Geschehens zumindest eine wesentliche Rolle
spielt. Vor den Stigmatisierungen liegt fast immer eine längere Zeit der Askese.
(Bei Therese Neumann wird die bewußte Askese durch die ihr gleichkommenden
Entbehrungen des langen Krankenlagers ersetzt, worauf schon v. Weisl in seiner
bekannten Veröffentlichung in der „Vossischen Zeitung" hinwies.) Von den
Yogis wird Askese, die also Libido stets in andere als die gewohnten Bahnen
lenkt, bewußt gerade zur Erzeugung parapsychischer Phänomene
geübt. Pubertät und Klimakterium, die Lebensabschnitte, in denen
ein größerer Teil der Libido nicht fest gebunden ist, sind bei den Medien ani
ergiebigsten für ihre Produktionen, und endlich ist der Zusammenhang dadurch
offenkundig geworden, daß v. Schrenck-Notzing nach den Sitzungen mit Willy
Schneider mehrfach in dem Trikot des Mediums Geschlechtsprodukte (Sperma)
fand. Es zeigte sich offenbar die Geschlechtsfunktion hier noch als Parallel-
Vorgang.
Allgemein muß noch bemerkt werden, daß mit der Anerkennung
der Triebe als Quellen unserer vitalen Energie
durchaus nichts über Sinn und Wert der Schöpfungen, zu
denen sie notwendigerweise verwandt wird, ausgesagt ist.
Es wäre unbillig, mit den bisherigen Betrachtungen 2) den Fall der Therese
Neumann ohne weiteres als erledigt anzusehen. Die Psychoanalyse geht stets
nur vom Individuum aus und sieht alles sich ihr Bietende prinzipiell als dessen
eigenes Material an. Das Parapsychologische liegt daher zum größten Teil außerhalb
ihrer Sehweite- Um dieses eventuell zu finden, muß man sich anders zu
den Dingen einstellen. Wir wissen, daß auch bei echten hellseherischen und
telepathischen Phänomenen das Geschaute bzw. das Uebermittelte oft die individuelle
Färbung des Mediums erhält. Daher spricht die Tatsache des verschiedenen
Erlebens derselben Szene durch verschiedene Ekstatiker noch nicht
gegen das Parapsychologische in dem Phänomen. Ebensowenig kann man bei
diesen ekstatischen Schauungen den hellseherischen Akt beweisen; man muß
ihn aber, nimmt man Hellsehen in die Vergangenheit als mögliche Grundtatsache
an — die psychometrischen Versuche v. Wasielewskis u. a. legen es
nahe —, auch in diesen Fällen als Möglichkeit zugeben. Sollte es sich einwandfrei
sicherstellen lassen, daß Therese in ihren Schauungen aramäisch
spricht3), so wäre dies ein bündiger Beweis für ein parapsychologisches Phänomen
, denn wo sollte Therese jemals aramäisch sprechen gehört haben? Was
die Stigmatisierung betrifft, so geht sie gleichfalls weit über das hinaus, was
sich im allgemeinen suggestiv erzielen läßt. Man muß m. E. annehmen, daß
!) Zum näheren Verständnis muß man mit Freuds Sexualtheorie vertraut sein.
Libido ist — allgemein gesprochen — Energie des Lebenswillens. Sie äußert sich
somit zuerst in den Funktionen des Aufbaus des Organismus. Später tritt das
speziell Geschlechtliche in den Mittelpunkt; kommt es zur Abwehr, so werden
eventuell auch die früheren Stufen der Libidoentwicklung abgewehrt.
*) Uebrigens erhebt die hier vorgetragene psychoanalytische Betrachtung des
Falles keinen Anspruch a«uf Vollständigkeit und erschöpfende Tiefe.
3) Dieses ist bekanntlich behauptet worden.
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