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Barthei: Um das Phänomen von Konnersreuth.
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In Phänomenen wie demjenigen von Konnersreuth liegt zweifellos eine höchst
seltene individuelle Emporstaffelung organischer Möglichkeiten vor, die wie alles
Individuelle aus der allgemeinen Gesetzlichkeit schöpferischen Werdens hervorgetrieben
wird. Selbs^verständlich kann kein Denkender den Standpunkt der
anorganischen U hr wo r ks gesetzlichkeit des Wirklichen teilen, aus welchem
keine Individualisie rung, keine Entwicklung und kein Wachstum
sich begreifen ließe, sondern es darf also zugegeben gelten, daß Wissen-
»chaftlichkeit heutzutage nur im Sinne organisch verfahrender Forschungsweise
ihrer Absicht, die Wirklichkeit zu begreifen, wie sie ist, gerecht werden,
kann. Theorelischer Materialismus und erkenntnistheoretischer Empirismus liegt
jenseits der Schwelle des wissenschaftlich Ernslzunehmenden, wenn man auch
nur die bescheidensten Studien sogenannt okkulter Phänomene getrieben hat.
Das Wachbewußtsein ab solches ist ein ebenso großes Rätsel wie alles Okkulte,
und meines Erachtens läßt sich nur aus der polaren Beziehungseizung des einen
zum andern ein kritischer Versländnisfortschritt erzielen. (Vgl. meine Theorie
des Wachbewußtseins und der okkulten Zustände in dar Zeitschrift für Para-
psychologie, Januar 1927.) Die Begriffe ..krank" und „sexualpathologisch" können
für das Begreifen von Erscheinungen, wie sie in Konnersreuth auftreten,
nicht benutzt werden, da es ganz gleich ist, ob vom Standpunkt biologischpraktischer
Wertung beu* teilt das betreffende Wesen als „ordnungsgemäß''
zu betrachten ist oder nicht. Auch das nicht biologisch Ordnungsgemäße ist etwas
Wirkliches, arbeitet nach Naturgesetzen, und seine Eigenart ist durch das Wort
„krank'*' oder „sexualpathologisch" ebensowenig begriffen wiedurch
jdas Wort „Wunder". Im eisteren Falle gibt sich die wissenschaftlich-
organische Forschung selbst preis, indem sie auf einen biologischen Ableh-
(nungstrieb spekuliert, durch den die Sache dann „erklärt" sei, im letzteren
Falle spekuliert man auf ein religiöses Fürwahrhalten. In beiden Fällen
aber bleibt die organische Einfügung der Erscheinung in einen weiteren Tatsachenkreis
unbefriedigt.
Wenn ich hier einige Bemerkungen über das Problem gebe, so kann es sich
also nur darum handeln, Verständnisbrücken zu suchen zwischen dem individuell
weit über alles Gewöhnliche emporgestaffelten Phänomen und den allgemeiner
verbieitelen Naturzusammenhängen. Ein Wunder ist wie gesagt alles oder nichts,
Auch die Zeugung ist, wenn man will, ein Wunder. Auch die im Geistesdeb<>n
auftauchende große Persönlichkeit. Das Wunder von Konnersreuth aber, das
einheitliche Gegebensein von Sligmalisierung, richtigem Sprechen einer unbekannten
Sprache und En.hallung von Nahrung steht im zweifellosen Zusammenhang
mit allen Phänomenen, die sich aus ungewöhnlich ausgeprägter und inniger
seelischer Vertiefung ableiten. Und dies eben ist das Wunder, daß
die seelische Erlebensvertiefung hier ein Abgrundsniveau erreicht hat, das in der
Geschichte nur selten erreicht wurde und das aus dem betreffenden Wesen zweifellos
etwas „Auserwähltes" macht. Der Begriff einer außergewöhnlich starken
seelischen Erlebnisvertiefung soll nun nicht bloß ein schönes Wort sein, durch
das man etwas wie ein Begreifen in der Tasche haben zu können glaubt, sondern
es läßt sich durch diesen Begriff eine Vereinheitlichung der Erklärungswurzeln
sämtlicher drei wirklichen Erscheinungen geben: der Sligmatisierung,
des Sprechens in der unbekannten Sprache und der nicht notwendigen INahrungs-
aufnahme, welch letztere Erscheinung überhaupt noch ohne den Schatten einer
Erklärung dasteht.
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