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Seeling: Besuch bei der „Hellseherin" Hessel-Leipzig.
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gcrichtsrates Lieber, wird die \on Frau Hessel eingegangene Antwort bestätigt,
und zwar unter dem Datum vom 3i. Januar 1922.
Ein drittes Schreiben des Untersuchungsrichters trägt das Datum vom
17. Februar 1922 und enthalt eine nochmalige Einladung.
Am Dienstag, den 7. März 1922, brachte die „Tilsiter Allgemeine
Z e i t u n g" insgesamt 11 (elf) nichtssagende Druckzeilen zu der verblüffenden
Ueberschrift: „Aufklärung des Mordes bei Ober-EisseIn/' Am
23. April, also auffallend spät, erschien in derselben Zeitung ein sensationell
aufgemachter Bericht: „Die Hellseherinnen bei der Arbeit."
(21/* Spalten lang.) Frau Hessel konnte keinerlei Auskunft geben, was denn nun
eigentlich mit dem „Mörder'' geworden sei. Sie legte mir eine Nummer der
„LeipzigerNeuestenNachrichten" vom 11. Mai 1926 vor mit einem
sehr knappen Bericht: „Ein Mord nach Jahren aufgeklärt."
Ins Jahr 1924 fällt das energische Auftreten Dr. Hellwigs gegen die Kri-
minaltelepathen. Es soll hier nicht die Polemik in Sachen des Dessauer Falles
aufgewärmt werden. Aber im Zusammenhange dieses Artikels muß an den
Artikel in den „Leipziger Neuesten Nachrichten" (Unterhaltung
und Wissen) vom 21. Februar 1924 erinnert werden: „Hellseher als Helfer
bei der Verbrechensbekämpfung." Hier sind die Leistungen der
Frau Hessel und ihrer Schwester Louise Diederich (Ehefrau eines ehemaligen
Möbeltischlers) unter die Lupe genommen worden. Es folgte dann ein
Besuch Dr. Hellwigs bei Frau Hessel, dem ein interessanter Brief aus Potsdam
(6.Mai 1924) folgte. Trotz der über die Maßen beftigen Bekämpfung der
Kriminaltelepathie auch von anderen Stellen gehen aber die amtlichen Aufforderungen
an die Leipziger Hellseherinnen weiter!
III. Chemnitz, 27. Juni 1924.
Untersuchungsrichter beim Landgericht.
, 1 . 3. V. 25/24.
Dort lesen wir u. a.:
„Auf eine von der Staatsanwaltschaft (!) Chemnitz an Sie gerichtete Anfrage
vom 20. 6. 1924, ob Sie bereit sind, Ihre Dienste zur Verfügung zu stellen,
haben Sie bis heute noch nicht geantwortet."
Frau Hessel erhält sodann die Fahrt III. Klasse zugebilligt und neben tatsächlich
erwachsenen Auslagen M. 6.— (!) Zehrgeld. Gegebenenfalls noch
M. —.75 Gebühr pro Stunde!
Aber auch 1920 kommt noch eine amtliche Aufforderung:
IV. Rudolstadt, den 13. Juni 1920.
Der Untersuchungsrichter des gemeinschaftlichen Landgerichts.
1. J. 1062/25.
Wir lesen u. a.: „Würden Sie bereit sein, bei der Aufklärung des Falles zu
helfen? Auf Wunsch bin ich bereit, Ihnen nähere Auskunft zu geben."
Ja, selbst 1927 hat sich die Polizei „halbamtlich" an Frau Hessel gewendet.
(Brandsache in Holstein, Frühjahr d. J.)
Es ergibt sieb also, daß die Behörden wiederholt an die „Hellseherin"
herangetreten sind, daß diese Stellen also von der Möglichkeit der Aufklärung
eines Verbrechens durch ein Medium überzeugt waren, ja — vielleicht — hier
und,da noch sind. Das muß einmal klar herausgestellt werden, um die zahlreichen
Strafverfahren gegen Hellseher und Hellseherinnen richtig beurteilen
zu können. Die Gefahren der Kriminaltelepathie wird niemand bestreiten,
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