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Zeitschrift für Parapsychologie. 3. Heft. (März 1930.)
wohnenden Möglichkeiten auf der Basis einer leib-seeli-
sehen, biologischen Wirklichkeit.
Damit geht Prinzhorn über Freud hinaus, indem er ihn fruchtbar
verknüpft mit der für jede Psychotherapie unerläßlichen Charakterologie von
K1 a g e s — ansonsten kann von einer wirklichen, echten, „großen Psychotherapie
*' überhaupt nicht die Rede sein. Eine Psychotherapie nur auf der Basis
einer Trieblehre aufgebaut, wird dem eigentlichen Charakter einer Neurose
nicht gerecht, da diese ja erst entsteht durch einen mangelhaften Ausgleich
zwischen Trieben und Persönlichkeit, d. h. zwischen dem Allgemeinen und dem
Besonderen eines jeden Menschen. Darum ist Psychotherapie nichts weiter
als der Versuch einer „Nachentwicklung der Persönlichkeit" und setzt damit
für das Gelingen einer „Heilung" — auf dies© Problematik weist Prinzhorn
eindringlich und eindeutig hin — voraus als Psychotherapeuten die Reife einer
Persönlichkeit und als Heilungsuchenden einen Menschen mit wenigstens halbwegs
ausreichender Anlage zur Gestaltung einer Persönlichkeit. Ist dies nicht
der Fall, ist jeder Heilungsversuch illusorisch. Einer Attrappe haucht auch der
beste Psychotherapeut keine Vitalität ein.
Wir greifen nur das Allerallgemeinste heraus aus Prinzhorns „Psychotherapie1
), der wir grundsätzlich beistimmen müssen, auch in dem Punkt,
wo sie sicherlich mit mancherlei Geschütz angegriffen werden wird: daß Psychotherapie
rein vom medizinischen Standpunkt, also als Funktion einer Wissenschaft
quasi, überhaupt nicht gültig ist, da sie allein von hier aus gar nicht
sanktioniert werden kann. Denn es geht in der Neurose weniger um eine spezielle
„Krankheit" denn um einen beinahe allgemeinmenschlichen Zustand
dieser Zeit, das Kernproblem liegt in der mangelnden Einbettung des heutigen
Menschen in der Gemeinschaft. Es fehlt ihm die „Religio" — diese zu schaffen,
scheint der Psychotherapeut berufen, so paradox das klingen mag. Aber er kann
es nur, wenn er neben, resp. vor seinen ärztlichen Kenntnissen auch über den
Menschen als einer „verläßlichen Leib-Seele-Einheit mit einem unruhigen und
täuschungsreichen Geiste" Bescheid weiß und sich darüber klar wurde, daß der
Mensch nicht ein Einzelwesen, und als solches gesondert zu betrachten ist, sondern
vor allem ein Gemeinschaftswesen repräsentiert.
Von hier aus aber erscheint der Arzt herausgehoben aus der „Enge" seines
medizinischen Fachkreises und hineingestellt in die Weite des menschlichen
Daseins und die Wirklichkeit einer lebendigen Welt; und von da aus hat er
eine Aufgabe zu erfüllen, die allgemeiner ist als irgendeine sonst: „Im Namen
eines Menschenbildes, das äußerste Freiheit mit stärkstem Risiko und sicherster
Bindung und Bergimg im Absoluten vereinigt" zu wirken für eine „lebensgerechte
Einordnung", nicht aber für eine beliebige „Normierung" — wennschon
diese Zeit nur allzusehr sich diesem Begriff verschrieb —, denn daß auch
der Psychopath ein Recht darauf hat, eine wenn auch noch so „abnorme"
Lebensform zu finden, ist ein „biologischer Sachverhalt".
Dieser Psychotherapeut ist eine biologische Forderung, ebenso wie seine
*) Gg. Thieme, Leipzig.
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