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Kleine Mitteilungen
201
Weise ausgeweitet wiid. Zum Aberglauben gehören nach Strasser nicht etwa
nur Wahrsagerei und Kartenschlägerei, Prophetie, Astrologie und Spiritismus,
sondern auch die Phänomene der Materialisation, des Hellsehens, der Telepathie
und Psychometrie, persönlicher und animalischer Magnetismus, siderisches
Pendel, Augendiagnostik und Chiromantie, die Lehre vom Unbewußten ,die gesamte
Psychoanalyse und Psychotechnik, Psychotherapie, Suggestion und Hypnose
(sofern sie nicht rein psychomechanisch aufgefaßt werdend, sowie Kretsch-
mers Ideen über den Zusammenhang von Körperbau und Charakter, ja selbst die
Graphologie wird als „Wahrsagerei, Kurpfuscherei und Schwindel" apostrophiert.
Außerdem kennt Strasser noch folgende „Aberglaubensformen": den Aberglauben
an die Technik, Experimentalpsychologie, an die Analogie, an Nervenschwäche,
Konstitution und Vererbung, an innere Sekretion, Hormonisierung und Triebkonstitution
, an Vitamine und Rohkost, ans Kausalitätsgesetz, an den photographischen
Beweis und an die Druckerschwärze. Wie weit Strasser mit den
von ihm angegriffenen Gebieten vertraut ist, zeigt schon das Fehlen jeglicher
Systematik in seinem Aufsatze. In seinem Exaktheitsfanatismus verschließt er
sich alle Wege zu höherer Erkenntnis und gelangt schließlich zu einer neuen Form
des Aberglaubens, zum Aberglauben an den Aberglauben. Daß in diesem Elaborat
von einer Objektivität der Darstellung gar keine Rede ist, davon kann sich jedermann
ohne weiteres überzeugen. Wollte man die Tätigkeit eines Nervenarztes an
Hand von einem Dutzend Karrikaturen zur Darstellung bringen, so würde sich der
Betreffende für diese Art von „Objektivität" höflichst bedanken. Genau so verfährt
aber Strasser mit dem ganzen Problemgebiet der okkulten Phänomene
und der seelischen Beziehungswissenschaften.
Um die Graphologie als Schwindel zu entlarven, suchte er dem bekannten
Graphologen Dr. Max Pulver eine Falle zu stellen, indem er ihm über die ihm
zur Prüfung vorgelegte Handschrift seiner Gattin Vera, ebenfalls Aerztin, unrichtige
Angaben machte. Der Graphologe ließ sich durch diese Angaben beeinflussen
, und das Urteil war dementsprechend nur teilweise zutreffend. Strasser
hält sich deswegen für berechtigt, die Schriftdeutung als Wahrsagerei zu verwerfen
. Die unfaire Handlungsweise Strassers wurde bereits in einer Kritik aus
der Feder von Ernst Aeppli im Feuilleton der „Neuen Züricher Zeitung" vom
19. Dezember 1928 ins richtige Licht gerückt. Auf ähnliche Weise verfährt aber
Strasser mit allen möglichen andern Gebieten. Die Anerkennung des wahren Kerns,
der nach Erachten prominenter Gelehrter hinter der Astrologie steckt, nennt
er „einen ganz gefährlichen Gedankengang" und behauptet einfach, es sei gar
nichts dahinter (Er muß es ja wissen!). Ohne den geringsten Versuch zu einer
Nachprüfung gemacht zu haben, werden aus voreingenommener „wissenschaftlicher
" Ueberzeugung — die im Grunde genommen nur eine andere Art von
Glaubensübertragung darstellt — Tatsachen und Möglichkeiten abgelehnt, die
man bei tieferem Eindringen in die betreffenden Gebiete nkht wird leugnen
können. Aus einer historischen Erklärung der Entstehung der Astrologie — vorausgesetzt
, daß sie überhaupt richtig ist — läßt sich nicht folgern, daß eine
Beziehungswissenschaft in diesem Sinne ausgeschlossen sei. Die moderne Astrologie
glaubt ja längst nicht mehr an eine Verursachung von Ereignissen durch
Gestirnsbewegungen, sondern vielmehr an eine Parallelität des Geschehens. Alle
Behauptungen eines Kausalzusammenhanges zwischen irdischem und kosmischen
Geschehen sind aus einer ungenauen und mißverständlichen Ausdrucksweise hervorgegangen
. Wenn ein Astrologe sich ausdrückt, eine bestimmte Gestirnsstellung
„bewirke" dieses oder jenes Ereignis, so ist er sich im Grunde genommen doch
bewußt, daß nicht die Gestirnsbewegung die Ursache und das irdische Ereignis
die Wirkung ist. sondern daß es sich einfach um einen Zusammenhang des Geschehens
handelt. Wenn wir im täglichen Sprachgebrauch z. B. sagen: „Die
Sonne geht unter", so wissen wir schon, daß in Wirklichkeit nicht die Sonne
untergeht, sondern daß die scheinbare Bewegung der Sonne durch die Drehung
der Erde vorgetäuscht wird. Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, daß die vom
Verfasser als Kronzeugen gegen die Astrologie zitierten großen Astronomen auch
Astrologen waren. Obschon Strasser an anderer Stelle den Materialismus als
Weltanschauung abzulehnen vorgibt, so ist doch die ganze Abhandlung von
mechanistisch-materialistischem Geiste durchtränkt. Wenn es einem Schriftsteller
so viel Mühe bereitet, dem menschlichen Individuum im Weltall eine Bedeutung
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