http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zs_para1930/0224
202
Zeitschrift für Parapsychologie. 3. Heft. (März 1930.)
zuzuerkennen, so zeigt dieser damit nur, wie weit er noch davon entfernt ist, den
wahren Sinn der Welt und des menschlichen Lebens zu erfassen. Strasser vermag
die Welt lediglich physikalisch, nicht aber philosophisch oder gar religiös zu begreifen
. Es sei hier noch erwähnt, daß eine ernsthafte theologische Richtung
direkt lehrt, die ganze Welt sei nur wegen des Menschen geschaffen, der
Mensch allein als Träger bewußten geistigen Lebens sei das Bedeutungsvolle,
während allem übrigen nur die Bedeutung von Kulissen zukomme. Wenn- sich nun
die Existenz von Beziehungen zwischen Menschenschicksal und Weltall statistisch
und experimentell nachweisen läßt, so haben wir uns einfach mit einer solchen Tatsache
abzufinden, gleichviel ob und wie wir dieselbe erklären können.
Eine Charakter-Typenlehre mit der Begründung zu bekämpfen, daß es keine
reinen Typen gebe, ist ein Akt erstaunlicher Logik. Jeder andere Psychologe
wäre ohne weiteres in der Lage, den Sinn und die Bedeutung eines Typenschemas
als Arbeitshypothese zu erkennen. Der geschulte Phrenologe wird an den
als Gegenbeweis gegen die astrologische Typenlehre nebeneinander gestellten
Bildern die Uebereinstimmungen im Formtypus sogleich erkennen. Der Versuch,
die Typenlehre mit dem Hinweis auf die Mannigfaltigkeit der Individuen und die
Möglichkeit einer Aenderung der Anlagen in der Entwicklung ad absurdum zu
führen, muß als gescheitert betrachtet werden. In Wirklichkeit bleibt sich der
Grundtypus desselben Menschen immer gleich; denn es ist keinem Menschen möglich
, gänzlich aus seiner Haut zu fahren und Handlungen zu begehen, die seinem
Charakter nicht entsprechen.
Sehr geistreich sind Strassers Bemerkungen über die Materialisationsphänomene
. Der Grund dieser Erscheinungen soll nämlich im Materialismus unserer
Zeit liegen. Schrenck-Notzing wird hierbei als „Spiritist" bezeichnet. Sehr charakteristisch
ist folgender Passus (S. 57 oben): „Natürlich ist man so weit, daß
man nicht mehr an Geister glaubt, auch nicht daran, daß man von ihnen besucht
werde, sondern man lebt im Zeitalter des Materialismus, in dem man zu wissen
vermeint, daß die Funktion des Denkens, der Geist aus Substanz bestehen
muß..." Erstaunliche Weisheit! Ist jemals behauptet worden, ein Geist müsse
aus Substanz bestehen oder sei identisch mit Substanz? Selbst nach spiritistischer
Lehre, die hier übrigens gar nicht in Frage kommt, ist die Materialisation bloß
eine Erscheinung, eine vorübergehende Verstofflichung, ein Anziehen von Materie,
während der Geist selbst als dahinter stehender bewirkender Faktor natürlich
immer unsichtbar und ungreifbar bleibt.
Daß Strasser auch den „tierischen" und persönlichen Magnetismus ablehnt,
braucht bei seinem Verständnis für die übrigen Gebiete nicht weiter zu verwundern
. Als „Beweis" gegen den Magnetismus verwendet er die seinerzeit auch
in der Z. f. P. erschienene Veröffentlichung von Dr. med. v. Ries: „Einige okkulte
Phänomene und ihre physikalische Deutung." Der Aufgeklärte wird wissen,
daß über diese Erscheinungen noch lange nicht das letzte Wort gesprochen ist,
ebensowenig über das siderische Pendel, und daß in neuester Zeit wieder Entdeckungen
gemacht wo' den sind, welche die Anschauungen von Mesmer und
Reichenbach in vielen Teilen bestätigen. Strasser gefällt sich ferner darin, über
die „Kurpfuscherei des Pfarrers Künzle", des bekannten graubündnerischen
NÄurheilers und Kräuterdoktors, loszuziehen und dessen Tätigkeit als unheilvoll
darzustellen, weil sie mit herrschenden medizinischen Anschauungen im Widerspruch
steht. Wir wissen ja, daß noch nie ein Mediziner einen therapeutischen
Mißgriff getan hat und daß noch nie ein Patient an Medizinalvergiftung gestorben
ist. Ebenso wissen wir, daß alle Mediziner ausnahmslos moralisch hochstehende
Leute sind, die nicht ihren eigenen Vorteil suchen und nur das Wohl der Kranken
im Auge haben. Oder nicht? Gewiß, es gibt solche Aerzte, und man möchte
wünschen, daß ihrer möglichst viele wären. Ein Vertreter einer Wissenschaft aber,
in der fortwährend neue Erkenntnisse bisher geübte Praktiken als unrichtig erweisen
, hat kein Recht, gegen Heilkundige zu Felde zu ziehen, die oft von
richtigem Instinkt geleitet, mit einer naturgemäßen Behandlung eher das Richtige
treffen und gewisse Krankheiten rascher erkennen als der oft übermäßig mit
theoretischem Wissen beladene Mediziner, der manchmal vor lauter Bäumen
den Wald nicht sieht. Auch religiöse Wunder und Krankenheilungen werden von
Strasser in glatter Ignoranz aller auf diesem Gebiete bestehenden Tatsachen
geleugnet.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zs_para1930/0224