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Zeitschrift für Parapsychologie. 4. Heft. (April 1930.)
mental-Wissenschaft, die gegenwärtig zu Beobachtendes prüft, sondern sie hat
es auch mit der Vergangenheit zu tun, mit all dem vielen, was1 frühere Geschlechter
oft ganz spontan erlebt und in zahllosen Fällen nach bestem Wissen
und Gewissen aufgezeichnet haben.
Der gute Parapsycholog muß kritischer Historiker, zum Glauben und zum
Zweifel gleich geneigt, Experimentator und spekulativer Kopf zugleich sein.
Denn so wichtig es auch ist, zwischen Tatsachen und ihrer oft vorschnell gegebenen
Ausdeutung strenge zu scheiden, so darf doch der, der auf diesem Gebiete
arbeitet, bei den bloßen Tatsachen nicht stehenbleiben wollen, sondern
muß zugleich, wenn anders er echter Wissenschaftler ist, nach den bewirkenden,
zunächst unbekannten Kräften forschen, die hier am Werke sind. Und da wird
er dann früher oder später vor ein Problem gestellt, dessen Ernst in der Welt
kaum seinesgleichen haben dürfte. Er wird jene Kräfte in weitgehendem Maße
als starke seelische Kräfte buchen müssen, und zwar zunächst als Kräfte
uns an sich bekannter Seelen, die aber in ihrem Bereich sozusagen verborgene
Türen und Kellerluken haben, die in Räume führen, die man bisher
irrtümlicherweise meist für unbewohnt und daher für gänzlich belanglos gehalten
hat. Kurz, er wird auf die Macht des Unbewußten und Unterbewußten
stoßen, das ungeahnte Fähigkeiten der Wahrnehmung einerseits und
plastischer Gestaltungskraft anderseits zu besitzen scheint. Aber wenn er
ganz gründlich ist — diese Behauptung kann heute schon gewagt werden —,
wird er sich damit nicht zufrieden geben dürfen. Er wird erkennen müssen,
daß jene bisher vernachlässigten Räume hinter den Türen und unter den Kellerluken
nicht bloß mit den Bezirken anderer bekannter Seelen geheimnisvolle
Verbindungen haben, sondern auch einer Welt gegenüber offen stehen,
deren Existenz zu leugnen oder doch zu übersehen bisher als das schönste, gesichertste
Vorrecht der Wissenschaft galt. Und das ist immer ein sehr peinlicher
Augenblick, wenn sich herausstellt, daß wir auf Vorrechte verzichten
müssen, di<* wir bisher als ganz selbstverständliche und vollkommen gesicherte
für uns in Anspruch genommen haben.
Das ist das überaus Peinliche für jeden ernsten Wissenschaftler, daß die
Parapsychologie auf Grund ihres Tatsachenmaterials zwar die Macht des Unterbewußtseins
aufs stärkste betont, zugleich aber doch, wenn sie ihr ganzes
Stoffgebiet überschaut, trotz vielen Hin und Hers um die Erkenntnis nicht
herumkommt, daß es eine über sinnliche Welt gibt, die in diese irdische
mannigfach hineinragt.
Das bedeutet noch keine Wiederbelebung des alten kirchlichen Offenbarungsbegriffs
. Dieser hatte sich das Problem zu leicht gemacht. Wenn, um
ein einfaches Beispiel zu wählen, medial veranlagte Menschen Stimmen gehört
haben, die sie als Stimme der Gottheit oder eines Gottesboten bewerteten, so
stammen solche Stimmen gewiß in den meisten Fällen aus dem Unterbewußtsein
der betreffenden, indem sich versteckte Wünsche und Gemütsbedürfnisse
vergegenständlichten und in der Ferne einer selbständigen Autorität den Hörenden
vor die Seele traten. Ein klassisches Beispiel dafür bietet Paulus im Römerbrief
, sofern er hier zunächst, Kap. 9 und 10, mit großem Scharfsinn Spekula-
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