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Zeitschrift für Parapsychologie. 7. Heft. (Juli 1930.)
Komplexe, namentlich durch den sog. Oedipuskomplex bestimmt wird.
Ich beeile mich, hier gleich zu bemerken, daß ich diese Einsicht nur für eine
Teilwahrheit halte, die allerdings bedeutsam genug ist, um in vielen
Fällen die Frage nach den unbewußten, Elementen auf seiten der die Erscheinung
beobachtenden und berichtenden Personen zur Deutung der Phänomene
zu rechtfertigen. Was der ebenerwähnte Oedipuskomplex ist, darf ich bei
Ihnen wohl als bekannt voraussetzen, weil er ja sozusagen das Kennwort der
Psychoanalyse geworden ist. Für alle Fälle wiederhole ich, daß nach psychoanalytische
! Erfahrung das frühkindliche Sexualleben im sogenannten Oedipuskomplex
gipfelt, in der Gefühlsbindung an den gegen geschlechtlichen
Elternteil mit Rivalitätseinstellung zum gleich geschlechtlichen. Diese liegungen
hat nach psychoanalytischer Auffassung jeder einzelne erlebt, aber
später in energischer Anstrengung verdrängt und vergessen. Uebrig bleibt dann
nur die heftige Abneigung vor allem, was an diesen Komplex rührt, und ein
starkes Schuldbewußtsein.
Ich will Ihnen jetzt einige Ergebnisse aus Analysen neurotischer Personein
mitteilen, in deren Gedankengängen Gespenster eine große Rolle spielen. Vor
allem scheinen nächtliche Eindrücke der Kindheit diesen Grübeleien zugrunde
zu liegen. Die Eltern, die im weißen Nachtgewande von den Kindern beobachtet
werden oder die unvermutet bei den Betten der Kinder auftauchen, namentlich
der Vater, sind hier die Vorbilder für jene geheimnisvollen fahlen, blassen
Geistergestalten. Das Hervorrufen entsprechender visionärer Erscheinungen
dient dann bei diesen Neurotikern verschiedenen Tendenzen, von denen ich
nur einige andeuten möchte: da ist einmal die ursprüngliche kindliche 'Lust, das
Geheime, Verborgene, Verbotene zu schauen, ferner gelangen auch kompromißartig
in der Gestalt des Geistes zwei gegensätzliche unterdrückte Wunschregungen
zum Ausdruck, die mit dem Familienkomplex zusammenhängen;
denn das Gespenst ist ein Toter, der doch auch irgendwie fortexistiert und
die Lebenden erschreckt. Als eine weitere Tendenz wäre noch das narzißtische
Streben zu erwähnen, alles aus der eigenen Einbildungskraft magisch zu erschaffen
. Ich möchte gleich hier bemerken, daß dieser Glaube an die Allmacht
der Gedanken zweifellos bei allen Arten von physikalischen und mentalen
Phänomenen eine wichtige Rolle spielt Als viertes Motiv der Gespen-
sterseherei habe ich noch die bei neurotischen Grüblern allgemein anzutreffende
Neigung anzuführen, das Sinnlich-Wahrnehmbare, Klare und Greifbare durch
Unbestimmtes, Verschwommenes, Immaterielles zu ersetzen. Dies geschieht
im Zuge des gegen die kindliche Schaulust gerichteten Verdrängungsprozesses.
Der halluzinatorische Charakter von Geistererscheinungen erfährt vielleicht auch
eine biologische Begründung nicht nur durch eine spezifisch visuelle Veranlagung
, sondern auch durch einen minderwertigen Sehapparat, so wie es
Brutus in der Geisterszene von Shakespeares „Julius Cäsar" ausspricht: „Ich
glaub', es ist die Schwäche meiner Augen, die diese schreckliche Erscheinung
schafft." Die psychoanalytische Deutung, daß jede Geistererscheinung
durch neurotische Projektion unbewußter Regungen des Beobachters entstanden
ist, möchte ich jedoch nur dort als die wahrscheinliche empfehlen, wo
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