http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zs_para1930/0468
430
Zeitschrift für Parapsychologie. 7. Heft. (Juli 1930.)
hat eine einzige in Berlin verheiratete Tochter aus erster Ehe, die ihrer baldigen
Niederkunft entgegensieht. Eines Nachts träumt er, daß seine zweite Frau
(ich bitte, das zu beachten, nicht seine Tochter) Zwillinge zlur Welt
bringt. Ein am folgenden Tag erhaltenes Telegramm seines Schwiegersohnes
zeigt tatsächlich die Geburt von Zwillingen an. Sie erfolgte ein paar Woche»
vor dem von der Familie berechneten Termin, und zwar spricht Freuds Korrespondent
in seinem ersten Brief von vier Wochen, in seinem zweiten von
drei Wochen. Freud erbittet nach Empfang der ersten Mitteilung von dem
Briefschreiber nähere Auskünfte und Einfälle, um den Traum deuten zu können
(denn Sie wissen ja wohl, daß. wir im allgemeinen nicht imstande sind, den
Traum eines andern zu deuten, wenn dieser uns nicht die hinter dem Trauminhalt
stehenden unbewußten Gedanken ausliefern will); leider befriedigen aber
die im zweiten Brief gemachten Angaben durchaus nicht die Wißbegierde des
Analytikers, da sie natürlich nicht entfernt an die Ergebnasse einer mündlichen
Aussprache heranreichen. Freud vermißt vor allem folgende Auskünfte: Wann
hat der Briefschreiber seine Tochter zuletzt gesehen? Welche Nachrichten hat
er kürzlich von ihr empfangen? Er schreibt im ersten Brief, daß die Geburt
um einen Monat zu früh kam, im zweiten sind es aber nur noch drei Wochen.
Wir erfahren auch nicht, ob die Geburt wirklich vorzeitig erfolgte oder
ob sich die Beteiligten nur verrechnet hatten. Von der Klarstellung aller
dieser Einzelheiten hängt aber unser Urteil darüber ab, ob wir dem Traum
(allerdings mit Nachsicht eines Schönheitsfehlers, nämlich der Nichtübereinstimmung
der Person im Traum und in der Wirklichkeit) überhaupt telepathischen
Charakter zusprechen sollen oder den Traum bloß als ein besonders gelungenes
Ergebnis unbewußten Abschätzens und Erratens betrachten oder gar
nur einen Zufallstreffer annehmen sollen. Freud hält die beiden ersten Auffassungen
für gleich möglich und gleich unbewiesen. Auf Grund der analytischen
Deutung, die ein Element des Traumes, nämlich die Zwillinge gebärende
Frau, gestattet, stellt er dann folgende Alternative hinsichtlich der
Traumbildung auf. Fall i: Der Traum ist die Reaktion auf eine telepathische
Botschaft: „Deine Tochter bringt eben jetzt Zwillinge zur Welt." Diese Botschaft
wird von der traumbildenden Psyche so wie irgendein äußerer oder
innerer Reiz behandelt und mit anderem gleichzeitig rege gewordenen Material
zu einem Traume verschmolzen. Dazu bedarf es aber noch im Sinne der
Fr^idschen Traumtheorie einer unbewußten, verdrängten Wunschregung, die
gleichsam auf der Lauer liegt, um zu einer Befriedigung zu gelangen. Eine
solche Wunschregung hängt in unserem Fall mit der zärtlichen Gefühlsbindung
zwischen Vater und Tochter zusammen, die Freud aus verschiedenen brieflichen
Aeußerungen des Vaters wohl mit Recht erschließt. Freud nimmt an, daß
beim Anlaß der telepathisch vernommenen Niederkunft der Tochter im Verdrängten
der unbewußte Wunsch rege wird: „Sie sollte lieber meine (zweite)
Frau sein!' Dieser Wunsch verschuldet also den Unterschied zwischen dem
manifesten Trauminhalt und dem Ereignis. Freud fügt dann noch die allgemeine
Bemerkung hinzu, daß die telepathische Botschaft, wenn wir sie als
solche wirklich anerkennen wollen, an dem Mechanismus der Traumbildung
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zs_para1930/0468