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Zeitschrift für Parapsychologie. 7. Heft. (Juli 1930.)
ganges nur um Hellsehen im eigentlichen Sinn und nicht um Abwesenheitstelepathie
handeln könnte, da die Wissenschaft unter Hellsehen dieWahr-
n e h m u n g von Dingen oder Vorgängen versteht, die in keines lebenden
Menschen Bewußtsein enthalten sind. Hitschmann hatte ja die Vision zeitlich
vor dem Ballonunfall. Den ganz unwahrscheinlichen Fall übergehe ich, daß
ein anderer das Hellgesicht hatte und es telepathisch auf Hitschmann übertrug.
Die Alternativdeutung lautet demgemäß nur: Hellsichtigkeit (die unrichtige
Zeitangabc scheint überhaupt nicht zum hellseherischen Inhalt zu gehören)
oder durch Tiefenpsychologie zu erklärende Phantasiebildung, die zufällig
ungefähr mit der Wirklichkeit übereinstimmt?
Die Selbstanalyse stellte einmal den bewußten Wunsch fest, daß der Aufstieg
mißlingen möge. Daß ein Unlustgefühl — in diesem Fall der Aerger
über den „mißlungenen" Sonntag — sich in destruktiven Wünschen gegen
Unbeteiligte Luft machen kann, wird Ibnen allen aus eigener Erfahrung bekannt
sein. Aus tieferen seelischen Schichten gesellte sich dann noch das
infantile Motiv brüderlicher Eifersucht hinzu (wenn Hitschmann ?chon einmal
bei seiner Mutter bleiben mußte, wollte er den Bruder draußen wissen). Sie
sehen, wir hier die Anknüpfung an den Ballonunfall gegeben ist. Mittels
eines unbewußten Identifizierungsprozesses, den der Parallelismus mit den
zwei Brüdern Renner ermöglichte, befriedigte Hitschmann seine Feindseligkeit
, Unzufriedenheit und Rachsucht im halluzinatorischen Bilde des Ballonunfalles
, der auch eine ganz bestimmte symbolische Bedeutung besitzt und
sich wahrscheinlich deshalb als Material für die Vision eignete. Ich will hier
aber nicht näher darauf eingehen. Der Charakter der Verwünschung,
den das Pseudo-Hellsehen im Falle Hitschmann besitzt, gestattet uns, auch bei
einem sonst wissenschaftlich denkenden Menschen wie dem Arzte Hitschmann
den unbewußten Glauben an die Allmacht seiner Gedanken anzunehmen, ähnlich
wie ein Wilder von der Wirksamkeit seiner Zauberformel überzeugt ist.
Ich meine, wir dürfen im vorliegenden Falle Hitschmanns psychologischer
Deutung wohl den Vorzug vor der okkulten geben.
Die Zeit drängt und ich muß darauf verzichten, Ihnen weitere Beispiele
zu erzählen. Ich habe schon an einer früheren Stelle meines Vortrages darauf
hingewiesen, daß Freud die Position der Skepsis bisher nur gegenüber dem
telepathischen Material aufzugeben bereit scheint. Wer aber als Psychoanalytiker
auf dem Gebiete der okkulten Tatsachen mehr Erfahrungen zu sammeln
Gelegenheit hatte und dementsprechend weniger Skepsis besitzt, wird sich
versucht fühlen, psychoanalytische Gedankengänge auch auf Phänomene anzuwenden
, deren objektive Existenz von der Psychoanalyse bis nun bestritten wird,
um gewisse Zusammenhänge verständlich zu machen und um womöglich den
Erscheinungsbereich der Parapsychologie in das System einer wissenschaftlichen
Weltbetrachtung einzuordnen. Ein solcher prinzipieller Versuch ist von mir
bereits vor einigen Jahren hinsichtlich des Spuks gemacht worden, indem
ich in ihm die Auswirkung ganz bestimmter, der Psychoanalyse geläufiger
seelischer Mechanismen, wie Wiederholungszwang, Geständniszwang, und die
Aeußerung gewisser Triebkomponenten unserer Sexualkonstitution, wie Sadis-
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