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Plötzlich wird das Fenster geöffnet, und herein springt ein Skelett mit
einer Federmütze: der Tod. Er sieht sich zuerst ein wenig um, wie suchend,
springt ins Zimmer hinunter und tritt an mein Feldbett heran, bleibt stehen und
ergreift meinen Kollegen, gerade eine Nummer höher in der Reihe, reißt
ihn aus dem Bett heraus und stößt ihn zur Tür, welche er öffnet. Hinter
der Tür stehen in strammer militärischer Haltung zwei kleine Skelette, wie
Henkersknechte, eine Pikkolomütze mit goldenen Knöpfen auf dem Totenschädel
. Mit einem derben Fußtritt übergibt der Tod meinen Kollegen den
beiden Henkern, die ihn rasch ergreifen und abführen. Dann wird alles
verschwommen und ich erwache."
Es stellte sich heraus, daß der betreffende Kollege am Sonntag morgen
zwischen 5 und 7 Uhr plötzlich, ohne jede vorhergehende Krankheit, verschieden
war. Der Träumer erfuhr dies erst am Montag morgen, nachdem er am Sonntag
mittag das merkwürdige Traumgesicht im Kreise seiner Familie erzählt
hatte. Sehr wahrscheinlich fallen Todesstunde und Stunde des Traumes
zusammen.
Der Träumer berichtet hierzu: Vor vielen Jahren sah ich einen Film:
Memento mori. Der Tod, mit einer Sense bewaffnet, springt zu einem Fenster
berein und warnt die in Saus und Braus lebende Hauptperson vor ihrem
nahenden Ende. Der Schlafsaal mit den Feldbetten ist eine Erinnerung aus
der Zeit meines Militärdienstes.
Bei eingehender Betrachtung des Traumes können wir uns, auch ohne
eigentliche Analyse, kaum des Eindrucks erwehren, daß ein verdrängter Todeswunsch
gegen den Kollegen mit im Spiele gewesen ist, und somit sowohl die
Urheberin des Traumes als auch der Paragnosie war. Solches erhellt aus der
ganzen Szenerie: ist doch im Schlafsaal der Akzent auf die Rangordnung gelegt
worden: die strengste Anciennität bestimmt die Reihenfolge der Schlafstätten.
Oerade das aus alten Tagesnöten hervorgeholte militärische Gesamtbild paßt
besonders gut dazu! Jedes militärische Milieu erweckt sogleich den Gedanken
an Rangordnung. Es ist der dem Träumer im Rang unmittelbar vorhergehende
Kollege, welcher stirbt: diese Tatsache wird im Traumbilde nachdrücklich
betont, also der zunächst einer Beförderung im Wege stehende. Wenngleich
vermutlich die ethische Persönlichkeit nicht den bewußten Todeswunsch im
Ta^esbewußtsein aufkommen ließ, läßt sich der unbewußte Wunsch von jedem
Kundigen herauslesen. Denn es ist nicht der Mensch, sondern der Vordermann,
welcher dem Tode geweiht wird. Hierzu stimmt vorzüglich, daß die Todesahnung
mit etwas grotesken Zutaten sich darbietet. Hätte doch auch einfach
geträumt werden können, der Tod holt den Kollegen: etwa eine telepathische
Mitteilung ohne weiteres. Daß sich der Träumer aber diese Ankündigung
unter Zuhilfenahme eines vor Jahren angeschauten Films bildlich ins Groteske
übersetzt, läßt sich als ein Beruhigungsversuch erklären: es ist der (eigentlich
wie erwünscht kommende) Tod des Kollegen ja nur ein Schauspiel, eine
unwesentliche Filmszenerie. Die ausgesprochen unzeremonielle Behandlung
des dem Tode Geweihten (Ausdruck der bekannten Rücksichtslosigkeit des
verdrängten Wunsches) erhöht andererseits das Opernhafte, also das Un-
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