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Kleine Mitteilungen.
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erst recht der Protestant nicht zu nehmen braucht. So erst wird die sonderbare
Konstellation möglich und erklärlich, daß der protestantische Historiker Dr. Fritz
Gerlich in seinem Buche „Die Stigmatisierte von Konnersreuth" für das Wunderbare
der Phänomene eintritt, während die katholischen Religionspsychologen
Prof. Lindworsky und Prof. Wunderle, die beide Priester sind, für eine natürliche
Erklärung eintreten.
Wunderle meint, daß die Fülle der seit mehr als zehn Jahren vorliegenden
Tatsachen nicht mehr von einer einzigen Wissenschaft bewältigt werden kann.
Am wenigsten glücklich haben die Medizin, die Psychiatrie und die Psychoanalyse
gearbeitet. Die „Nur-Hysterie"-Hypothese ist unhaltbar. Der Mangel rechtzeitiger
psychologischer Untersuchungen des Falles rächt sich jetzt als schwere
Unterlassungssünde. Schon ist zuviel Zeit ungenützt verstrichen.1) Doch liegen
immerhin einzelne religionspsychologische Bemühungen vor, darunter die von
Wunderle selber. Nur darf man das Heil in diesem Falle nicht von der „exakten"
oder experimentellen Psychologie allein erwarten. Deren Feststellungen reichen
(trotz Girgensohn u. a.) nicht weit über das bloß Elementare hinaus. Offenbar
denkt Wunderle an eine eingehende Psychographie und Charakterologie, die allerdings
in die höchsten und differenziertesten Gebiete des Seelischen hinaufreicht.
Auch die parapsychologischen Untersuchungen (Driesch, Oesterreich) enthalten
nach Wunderle manchen fruchtbaren Keim.
Obwohl er selbstverständlich an der Möglichkeit, daß es auch heute Wunder
gibt, festhält, ist er von der Tatsache eines Wunders im Falle Konnersreuth
durchaus nicht tiberzeugt2). Er verlangt eine neuerliche Nachprüfung der schon
jahrelang bestehenden Nahrungslosigkeit und der sich daraus ergebenden Stoffwechselvorgänge
. Leider ist seit dem Unfall der Therese Neumann im Jahre 1918
(Rückgratzerrung als Ursache der jetzigen gekrümmten Haltung) schon zuviel
Zeit verstrichen, das Kiankheitsbild ist nicht mehr zu rekonstruieren. Es ist nämlich
die Möglichkeit der Hysterie als Folge einer Wirbelverletzung durchaus gegeben
, nur daß Wunderle statt des Ausdrucks „Hysterie" mit seinem verletzenden
Nebensinn lieber „Psychogenität" sagen möchte. Wunderle übersieht, daß dieser
neutrale Ausdruck der Minderwertigkeit der Hysterischen im Punkte der anormalen
Beeinflußbarkeit von Seiten der Umgebung, der Lügenhaftigkeit und der
damit verbundenen Unglaubwürdigkeit nicht gerecht wird. Oder wie soll man es
nennen, wenn die Stigmatisierte innerhalb vierzehn Tagen über ein und dieselbe
Persönlichkeit in zweierlei, extremer und unvereinbarer Weise urteilt? Weil aber
Wunderle diese labile Haltung und starke Suggestibilität vorgefunden hat, darum
tritt er nicht nur für die Möglichkeit eines telepathischen Kontaktes, sondern
auch für eine natürliche Erklärung der Konnersreuther Ekstasen und Visionen ein.
Leider hat man zur Beurteilung der* fremden Sprachen, die Therese Neumann in
ihren Ekstasen hört, zuerst Philologen statt Psychologen herangezogen. Man sollte
rechtzeitig verhindern, daß die angeblich weissagende Visionärin zum Auskunftsbureau
degradiert wird.
Die Stigmatisationen („Wundmale") schließlich sind durchaus kein Betrug.
Aber während Lindworsky eine natürliche Stigmatisation für möglich hält und
die Konnersreuther „Wundmale" mehr für nervös geregelte Blutungen als für
eigentliche Verwundungen im physischen Sinne ansieht, erscheint für Wunderle
der Begriff der „natürlichen Stigmatisation" problematisch. Hat sich doch, von
Hautveränderungen und Bläschen abgesehen, bisher kein solcher Fall nachweisen
lassen. Wunderle würde eine schlechthin „natürliche" Stigmatisation nicht zugeben
, insofern die Tiefe des Passionserlebens Christi und damit eine gewisse
„Gnade" ihre unerläßliche Rolle dabei spielen muß. Aber dies Gnadenmaß braucht
~ l) Durch wessen Schuld*? Die bisherigen Untersuchungen, z. B. durch Prof.
Ewald, waten doch gewiß „rechtzeitig". (Schriftl)
2) Wir finden, daß diese Stellungnahme des geistlichen Professors den Dingen
vielleicht nicht gerecht wird. Auch weitere „Nachprüfungen" würden hier kaum
eine Aenderung bringen, wenn selbst die Kirche und ihre Vertreter aus dem
Falle nicht mehr zu machen bereit sind, wie es bisher geschah. Der allgemeinen
Zeitrichtung, die allem Wunderbaren allzu ablehnend sich verhält, wird ein nicht
wieder gut zu machendes Opfer gebracht! S.
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