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Schmidt: Experimente mit dem Metagraphologen Reimann-Prag.
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peitschendes. Ein Mensch, der ein großer Schauspieler sein müßte. Ist aber
kein Schauspieler. Ein guter Sich-Versteller, der in der Oeffentlichkeit etwas
ganz anderes vorstellt, als was er bei der Familie gilt. Die kennt ihn ganz
anders. Er spricht seine Muttersprache mit einem ausländischen Akzent. Vielleicht
spricht er überhaupt eine fremde Sprache.
Dr. Kronfeld: Alles falsch.
Das Schreiben wird nun aus der Tasche hervorgeholt und Herrn Heimann
offen übergeben. Es handelt sich um ein von einem größeren, mit Schreibmaschinenschrift
bedeckten Bogen abgerissenes Stück Papier, auf dessen Rückseite
mehrere Zeilen mit Tinte niedergeschrieben sind.
Kaum hat Reimann einen Blick auf die Schrift geworfen, sagt er:
Nein, das ist ganz etwas anderes. Auf den Schreiber trifft ungefähr alles mit
negativem Vorzeichen zu, was ich vorher sagte. Also alles das Gegenteil. Das
ist ein durchaus fein empfindender Mensch, der ist selber ein bischen sensibel
(vielleicht sensitiv? gemeint). Er ist von einer krampfhaften Deutlichkeit
in Kleinigkeiten. Unerhört verständig. Spricht etwas langsam. Er ist
einer von den Leuten, die oft und gern schweigen; wie das Sprichwort sagt:
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. In Wirklichkeit ist es Eitelkeit. Grund-
anständig. Mit sehr viel Geschmack. Dem Mann kann man ebenso gut schenken
wie borgen. Er gibt Geborgtes immer zurück, Geschenke nimmt er nicht. E«*
hat eine Ilandbewcgung (macht sie vor), die zugleich beschützen und befehlen
will. Er leidet keineswegs 'unter Minderwertigkeitsgefühlen. Hat ein natürliches
, außei ordentlich starkes Mißtrauen. Dagegen ist er besserer Erkenntnis
zugänglich. Er ist ein bißchen zu beiebrbar. Nicht charakterlos, aber er bat
nichts Ehernes, Stures, vielmehr etwas Beeinflußbares im Charakter. Hat er
etwas als richtig erkannt, geht er auch von seiner ursprünglichen Meinung ab
und geht unbeirrt einen neuen Weg. Ein Mann, der immer Ordnung machen
muß, weil er sie nicht halten kann. So auf dem Schreibtisch, so überall. Er
ist in eine Atmosphäre hineingeboren, daß er geistig arbeiten muß; ein Mann,
der unter gewaltiger Hochspannung leidet; ein Mensch, der immer mehr leisten
will, als er kann.
Rrimann ist müde und unterbricht sich.
Auf eine etwaige spätere Fort fahr ung wird verzichtet, da Prof. Einstein,
der selber der Schreiber ist, sich für voll befriedigt erklärt und den Fall unbedingt
als positiv anerkennt. Auch seine nahen Anverwandten erklären alle
erwähnten Einzelheiten als Punkt für Punkt zutreffend, besonders Frau Prof.
Einstein betont, daß gerade das f Charakter istische des intimen Familienlebens
absolut treffend gekennzeichnet sei, so daß sie nur ihr höchstes Erstaunen
ausdrücken könne.
Aber der Fehlgriff im Anfang? Auch das findet seine Erklärung. Das
Blättchen Papier mit den Schrifizügen von Prof. Einstein trug auf der anderen
Seite — und zwar so gefallet, daß diese nach außen schaute — in Maschinen
schrift eine Einladung zu einer Theatervorstellung und hatte die handschriftliche
Unterzeichnung eines unserer ersten und bekanntesten Bühnenleiter,
auf den die anfängliche, also falsch bezeichnete Charakterisierung Zug für
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