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Schmidt Experimente mit dem Metagraphologen Reimann-Prag. 613
mierl. Ein Mann von außerordentlicher Eitelkeit, aber nach außen spielt er den
Bescheidenen. Ein Mensch, den ich so charakterisieren würde: Wenn er krank
wäre und seine Angehörigen ins Theater gehen wollten, würde er sagen: geht
ruhig weg, aber er wäre sehr gekränkt, wenn man doch wegginge. Er hinterläßt
einen Eindruck, den man — allein vom Ansehen — nicht mehr vergißt.
Beinahe faszinierende Augen: Um die Augen geht erst das ganze Gesicht. Ein
Mann, der ungeheuer viel erstrebt hat, aber er ist zeitlebens mit dem, was er tut,
nicht zufrieden. Er lebt unter Hochspannung ... Die Kategorie des Berufes:
rein geistig und schöpferisch. Welche besondere Begabung es ist, kann ich
nicht erkennen. Jedenfalls etwas durchaus Künstlerisches, und zwar schöpferisch
Künstlerisches ... Er besitzt ein unerhörtes Verständnis für feinste Nuancen.
Ein geborener Psychologe, der genau weiß, daß alle Menschen in Sonntagskleidern
anders sind, als sie wirklich sind ... Ich glaube, daß er gewohnt war,
seinen Namen zitiert zu hören. Es ist ein gut klingender Name ... Er hat
viele Widersacher gefunden ... Seine Ideen haben etwas Sprunghaftes, er ist
von einer zu hohen Warte ausgegangen. Ein Mittelding zwischen einem äußerst
genialen Menschen und ein klein wenig anders, dann ist er schon gar nichts.
Epikrise von Dr. Neugarten: Die Dame, die mir den Brief übergeben
hat, erklärt: Wesentliche Züge des Schreibers, des Dichter-Philosophen Fried-
länder-Mynona, sind richtig erfaßt; das Bild ist jedoch nicht vollständig.
2. Fall. Ein Herr aus dem Auditorium, der auf einem kleinen Blatt Papier
schreibt: „Ich möchte eine Charakterschilderung mit aller Offenheit."
Reimann: Etwa 5o Jahre. Ein Mann mit sehr weitgehenden und etwas
ungewöhnlichen, sozusagen exotischen Interessen .. Er hat eine große Begabung
für Sprachen, obwohl ^'ch nicht sicher bin, daß er viele Sprachen spricht.
Er ist in irgendeiner Form wissenschaftlich forschend tätig. Hat eine Vorliebe
für fremdartige Sitten ... Er hat eine Vorliebe für Natur, d. h. für Ausschnitte
daraus ... Es ging ihm früher wiederholt recht unter „mittel"; er hat viel
zu kämpfen gehabt. Heut hat er eine solche Ausgeglichenheit, daß man ihn
als einen (philosophisch) glücklichen Menschen bezeichnen dürfte ... Eine
gewisse Befangenheit ist ihm bestimmt eigen — trotz obiger Zeilen' ... Er
ist opferfähig und immer geneigt für Menschen, die ihm nahestehen, etwas zu
tun ... Es müssen in seiner Familie ziemlich viel unangenehme und häßliche
Vorgänge passiert sein ... Er besitzt eine gewisse Hartnäckigkeit: immer ein
wenig auf seinem Standpunkt verharrend, so etwa, was man konservativ nennt...
Er beschäftigt sich mit vielen kleinen Gegenständen, die man mit der Lupe
betrachten muß. Mit staubigen Dingen. Hat sich viel mit Ostasien beschäftigt.
Er gehört zu jenen Menschen, die Ordnung machen müssen, weil sie es sonst
nicht aushallen können.
Epikrise: Der betreffende Herr, der den Zettel geschrieben hat, bezeichnet
alles als zutreffend. Er ist Auslandsdeutscher, der lange Zeit im fernen
Osten gelebt hat und eine Sammlung kleiner ostasiatischer Gegenstände besitzt.
Auch die angegebene Begabung für fremde Sprachen, die Vorliebe für Natur
und fremdartige Sitten sowie überhaupt die ganze Charakterschilderung, wird
als richtig bezeichnet.
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