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736 Zei'schrift für Parapsychologie. 12. Heft. (Dezember 1930)
Im ersten Stock lag mitten im Hause ein kleiner Saal, ganz im Barockstile
eingerichtet und mit einer altertümlichen, auf Leinwand gemalten Wand-
tapete versehen, die abenteuerliche Jagdszenen darstellte. An der einen Schmalseite
war ein offener Kamin, dessen weit ausladender Tragstein mit einem
Wappen verziert war. Ueber dem Kamin befand sich ein Gemälde in Lebensgröße
, das einen alten würdigen Herrn mit scharf geschnittenen Zügen und
kühn geschwungener Adlernase darstellte, der jeden mit seinem strengen Blicke
zu durchbohren schien. Er trug einen blauen Frack mit Goldstickerei und hatte
in seiner linken Hand einen Dreispitz, während seine rechte Hand einen Stock
führte, dessen runder Knopf \on einer kunstvoll gearbeiteten kleinen Eieruhr
gebildet wurde. Unter dem Spitzenjabot waren an einer schweren Goldkette
noch drei weitere Eieruhren sichtbar. Allgemein wurde wegen der Eieruhren
nur von einem Bild des Herrn von Eyerle gesprochen. Als bei Beginn des Winters
die Familie von der steilen Felsenburg herabstieg und in dem Hause einzog,
da wurden im Saale die fünf kleinen Kinder der Familie untergebracht, zusammen
mit ihrer alten Wärterin, der treuen Urschi, die schon vor langen
Jahren bereits den Vater der Kinderchen in seiner Jugend betreut hatte.
Es war Ende November. Eine finstere kalte Nacht zog herauf. Draußen
heulte ein Schneesturm. Urschi saß in einem alten lederbezogenen Lehnstuhle
vor dem Kamine und strickte. Im Kamine loderten die Scheite auf und verbreiteten
eine wohlige Wärme. Die fünf Kinder schlummerten in ihren Bettchen
. Nur Urschi selber fand keine Ruhe. Sie hatte ein quälendes Angstgefühl,
als ob sich irgend etwas besonderes in dieser Nacht ereignen müßte. Dann und
wann sah sie scheu zu dem Gemälde über dem Kamine auf, aber der strenge
Blick des alten Herrn von Eyerle erschreckte sie jedesmal heftig. Es war, wie
wenn er aus seinem Rahmen heraustreten wollte. Die kleine Oellampe verbreitete
nur einen matten Schein in dem Saale und ließ alle Gegenstände um
so phantastischer hervortreten. Die Nacht rückte inzwischen weiter voran und
von dem nahen Kirchturme schlug in langen dumpfen und dröhnenden Schlägen
die Uhr zwölf Uhr Mitternacht. Langsam verhallte der letzte Schlag. Da
mit einem Male schien es Urschi, als ob die Kinderchen fahl und bleich mit
fiebernden Wangen in ihren Bettchen lägen. Lautlos öffnete sich die Türe
des Saales und herein trat den Dreispitz auf dein Kopfe und den Stock, mit
der^Uhr in der Hand der leibhaftige Herr von Eyerle. Langsam und gemessenen
Schrittes ging er mit unsagbar traurigem Gesichtsausdrucke durch den Saal
und verschwand lautlos durch die gegenüberliegende Türe.
Lange Zeit konnte sich Urschi nicht entschließen, über das Ereignis an
ihre Herrschaft zu berichten. Als sie es endlich tat, da konnte aus dem
Archive festgestellt werden, daß es sich um den Urgroßvater der jungen Hausfrau
handeln müsse, der zeitlebens eine große Vorliebe für Eieruhren gehabt
hatte, und der genau an seinem Todestage erschienen war. Es wurde beschlossen,
daß Urschi ihn nach seinem Begehr fragen solle, wenn er das nächstemal erschiene
.
Im folgenden Jahre am gleichen Abend pfiff und heulte der Wind um die
Fenster. Urschi saß wieder vor dem Kamine und wartete der Dinge, die da
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