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Zeitschrift für Parapsychologie. Heft 1. (Januar 193L)
darzulegen daß Nietzsche eine neue Psychologie begründete und zwar durch
„seherischen Einblick in den Lebenszweck der gesamten Psychologie". Wenn
nun seine Kritik alles Bestehende auflöst: Gott, Vernunft, Staat, Wissenschaft,
Kunst, Moral — so fragt man mit Recht, was dann noch übrig bleibt, um eine
neue Psychologie zu schaffen? Nun, Nietzsche malt an den Zukunftshimmel
„das flackernde, magische Bild des Uebermenschen".
Nietzsches Psychologie ist von Gmnd auf gegensätzlich. Es besteht ein
mythischer Dualismus von zwei Urmächten, deren Beziehungen seit je in verschiedenen
Masken Streit und Ausgleich durchliefen: z. B. als Leben — Qeist,
Dionysos - Apollo, Romantik — Aufklärung, Religion — Individuation usw.
Unter der Herrschaft der Religionen erhielten beide Urmächte stets ihr Daseinsrecht
; jede nachreligiöse Sicherung von Erkenntnissen bringt aber mit sich,
daß die Aufklärung in ihnen eine Waffe gegen die Kirchen und auch die Lebensseite
und alle ihre Masken zu finden glaubte. Der künftige Mensch wird auf sich
selbst gestellt sein und in bewußter Spannung zwischen den Gegenmächten leben
im Vollbesitz seiner schöpferischen Kräfte. Dies ist der positive Gehalt und die
Würde der neuen, auf Nietzsche gegründeten Psychologie.
Interessant ist nun, daß Prinzhorn bei seiner Umschau in der Psychologie
der Gegenwart findet, daß Freuds Psychoanalyse auf einer Linie von
Nietzsche aus liegt. Beide sind überzeugt, daß das bewußte Verhalten
der Menschen ,.nur eine künstlich aufgebaute und in vieler Hinsicht täuschende
Fassade" bietet. Wir haben bei Nietzsche ebenso wie bei Freud „Verdrängung
", „Sublimierung" Wertschätzung der Träume und des Unbewußten. —
Ausdrücklich berief sich auf Nietzsche der Kreis um Stefan Georjge,
der zu erfüllen vorgibt, was jener nur ahnte und forderte und jenen zu Ehren
des lebenden Führers beseitigt, ohne auch sonstwie Nietzsche gerecht zu
werden. Wohl lebt im George-Kreis ein neues Ethos des Menschseins von hohem
Niveau, ein Impuls aus Nietzsches Welt, aber durchaus verwandelt.
Wirklich fortgeführt hat Nietzsches Gedanken dagegen Ludwig
K1 a g e s. Das Gemeinsame liegt dabei vor allem in dem tragischen Kampf
zwischen Sehertum und kritischem Erkennerzwang. Ur-Sachverhalt ist die
zwiespältige menschliche Persönlichkeit: unbewußt triebhafter Lebensgrund
(Dionysos) und bewußt-zielstrebig denkender Geist (Sokrates). Während
Freud die menschliche Persönlichkeit auf typische Entwicklung aus Triebschicksalen
zurückführt, beobachten wir bei Klages „Festhaltung der Persönlichkeit
unter möglichst genauer Erfassung ihrer persönlichen Eigenart, aber
zurückbezogen auf die Gesamtheit der Triebe und Interessen (Wille) und
gesehen gleichsam vom Weltgan/en aus". In der Schicht des elementaren Lebens
gibt es kein Bewußtsein seiner selbst, kein Zweckdenken, kein Wollen; das ist
der Urgrund, aus dem das Schicksal d^r Völker und Menschen in schöpferischer
Fülle quillt. Aber in diese gewaltige kosmische Lebenseinheit bricht der Geist
des Menschen als mächtig erregendes und tyrannisches Prinzip ein und bewirkt
Spannungen, aus denen alle Kultur entspringt. Die Entwicklung der Menschheit
ist der Kampf des Geistprinzips gegen das Lebensprinzip. Nietzsches
Tat ist, daß er als erster mit den Waffen des Geistes für das Leben gegen die
Tyrannis des Geistes kämpfte.
Qemeinhin weiß der Gebildete ja nur etwas von dem Negativen in
Nietzsche, seiner zersetzenden Kritik aller bestehenden Werte. Da ist es
wertvoll, daß Prinzhorn einmal wieder nachdrücklich auf das Positive in
ihm hinweist. Man mag im übrigen dazu stehen, wie man will — es läßt sich
auch manches dagegen sagen! —, man wird es nun doch leichter haben, dem
großen Zertrümmerer wirklich gerecht zu werden. Und welcher aufrichtige
Denker wollte das nicht!
Fachliteratur des Auslandes.
La revue spirite, 78. Jahrgang, April—Oktober 1930.
Spiritistisch-metapsychische Studien (L. Espinos set/t sich vom spiritistischen
Standpunkt aus mit der Parapsychik auseinander). — Jenseitsliteratur
(E. Bozzano setzt seinen im Dezemberheft 1929 begonnenen Bericht über
„Kundgebungen Jenseitiger" unter kritischer Besprechung der einzelnen Fälle
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