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Lucerna: Meine okkulten Erlebnisse.
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Marien-Natur war, am Morgen des Maria-Himmelfahrtstages von uns schied.
Auch daß sie. wenige Tage vorher, eine Stunde vor Ausbruch der Todeskrankheit
, sich ein Parkkapellchen aufschließen ließ, worin wir unerwartet
das Antlitz der in die Glorie aufsteigenden Gottesmutter im Bilde erblickten,
ist solch ein nur für Fromme bedeutsamer Zufall. Zufall auch, daß Mutters
letzter Brief an mich, den ich, Monate später heimkehrend, vorfand, an meinem
Geburtstag geschrieben war. Die Reihe solcher Zufälle setzte sich fort.
Zwei davon, die ich — nicht in zeitlicher Reihenfolge — hier bringe, sind
aus der Psyche Lebender allein erklärbar. Ob auch der dritte?
Am Weihnachtsabend des Jahres 1920 betrat ich nach langer Eisenbahn-
fahrt das Heim einer Freundin in S., die ich in früheren Jahren öfters besucht
hatte, ging fast sofort zum Büchergestell und griff nach einem Werk, das ich
wohl vor Zeiten schon einmal in der Hand gehabt haben mußte, denn es lag,
wo ich's aufschlug, ein Kärtchen meiner Mutter darin, in dem sie mir den
schlichten Allerseelentagsschmuck unserer beiden Familiengrabstätten beschrieben
hatte.
Zwei Jahre darauf las ich an einem einsamen Winterabend in H. zum
erstenmal von Theorien Professor L. Schleichs über Probleme des Weiterlebens
und der Vernichtung. Die Erinnerung an ein erschütterndes Jugenderlebnisi
.— und jenen Zufall, den ich als ,,dritten" anführe — wurde wach, und in
einer Anwandlung kmdisch-scherzender Zärtlichkeit sprach ich das Bild
meiner Mutter an. ,,Da bist du ja also noch!" sagte ich ihr. Am Morgen
darauf traf aus Z. ein Brief einer Kollegin ein, der als Einschluß eine
Karle meiner Mutter an mich enthielt, die — wohl in ein lange vergrabenes
Buch verirrt — sich bei ihr gefunden hatte.
Dem „dritten" Zufall gingen Lmstände voraus, zu zart und zu vielfältig,
um hier zergliedert zu werden.
Ein Haarnetz aus purpurroten Seidensanitrollen (Chenille), das meine
Mutter als jugendschöne Ballkönigin dereinst getragen, hatte ich der Freundin
E. B. geschenkt, die wir „Tochter",, und ,,Enkelin" zu nennen pflegten. Diese
war, wie erwähnt, im Jahre 1914 aus dem Leben geschieden. Im Frühling
1918 fiel mir einmal bei, nachzufragen, ob dieses, Fremden völlig unwert«
Ding, mir ein Doppelandenken, noch vorhanden sei. Ich erfuhr aber nichts
darüber. \ergaß es. Nun kam eine Zeil, in der ich, rein und völlig ,,im
Dienst der Idee", den Höhepunkt meines Daseins und Wesens erreichte. Niemand
wußte davon. .Niemand als eine, die nicht mehr war, niemand als
meine Mutter, hätte micti und das, was ich am Schluß meines EüntVigstten
Jahres tat und vertrat, seinem wahren Sinne nach zu verstehen vermocht. Ich
glaubte mit gutem Grund und es war mein Wunsch, daß niemand meines
fünfzigsten Geburtstages gedenken würde. Es kam auch so. Im aber vor
jeder Art Besuch sicher zu sein, hatte ich vor, an jenem Tag meine Tür nicht
aufzutun. ]Naehmittags klingelte es. Zunächst hielt ich stand. Dann fiel mir
ein: ,.Vielleicht will jemand etwas von dir!" Das einzigemal, wo ich aus
anderem Grund nicht geöffnet, hatte ,,ein Kind" mich gesucht, um mir den
Tod seiner Mutter zu melden! — Ich öffnete also. Frau B.. die Mutter
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