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Kleine Mitteilungen. 89

Sein und Nichtsein — Tag und Nacht.

Von Dr. Walther Ortmann.

Unsere Sinnenkultur wird zerstört durch Ueberschätzung der Seinswerte,
mögen sie nächste materielle Belange umfassen oder in transkausale Erkenntnisse
und übersinnliche Erfahrungen ausmünden. Man reiht Künste, Forschungen,
Tatsachen aneinander als Stufen einer Leiter, die auf mehr oder weniger „gesicherten
Fundamenten" zu Fortschritten zu führen verspricht, die zu sehen und
zu hören, mindestens aber seelisch bewußt zu empfinden sind. Die Tagesbewußtheit
, der leuchtende Erfolg mit übertragbaren Marktwaren oder erlernbaren Studienobjekten
wird einseitig kultiviert und auch die Nacht mit Ikhthungrigen
Sensationen zu erhellen gesucht, obwohl die Nacht ihre eigenen ffegenpoligen
Gesetze verlangt. Man klassifiziert und schichtet sinnliche und seelische Güter,
deren Anhäufung trotz vorübergehend fieberstillender Friedensverträge immer
stärker zu Kampf, Raub und Untergang drängt. Die Annahme, daß die spürbare
Realität dieser Güter durch ihre bloße Ansammlung und Anordnung allein zu
höherem Endziel führen müsse, das zu kennen irgendein Gott oder auch Niemand
bemüht wird, ist eine unbewiesene metaphysische und dennoch weitverbreitete
Fiktion. Das Ziel- und Zweckbewußte, das Menschen vom Tier unterscheiden
soll, scheint damit in letzten und wichtigsten Fragen ausgeschaltet. Uebrig bleibt *
ein neuer Turmbau ä la Babel, der Stein auf Stein herzuträgt in völlig unbegründeter
und irriger Anmaßung, irgendwo dadurch in den Himmel oder in ebenso
gespenstische Nachwelt zu gelangen, in völliger Verständnislosigkeit gegenüber
dem Besten, was je gesagt wurde und was allem Vergänglichen nur den Wert
eines Gleichnisses zuweist.

Worauf will dieses Gleichnis hinweisen? Soweit überhaupt das Gleichnishafte
in letzten Fragen zu begreifen versucht wird, begnügt man sich mit dem Hinweis
in weitere Ferne, in die das Allzunahe einfach projiziert und dort stolz mit
heiliggesprochenem, unkontrollierbarem Flitter behängt wird. Wunderliche Sprünge
suchen die Kluft zwischen Vergänglichkeit und Ewigkeit vergessen zu machen,
indem sie vom Jenseits ein Bild malen, das ein genauer, wenn auch fern vernebelter
Abklatsch sinnlichen und seelischen Seins ist unter bequemer Weglassung
irdischer Unzulänglichkeiten. Dieses Jenseits gestaltsuchender Träume und Visionen
erfüllt niemals, was es verspricht, es erschließt eine seelisch oder übersinnlich
erweiterte Ferne, aber nirgends ein Türchen zu weltumfassendem, Widersprüche
vereinenden Geschehen. Im Reich der Träume winkt nicht Freiheit,
sondern die Gefahr weiterer Ueberschätzung der Seinswerte durch Umdeutung
und Ausdehnung zu Ueberseinswerten, droht die Verlagerung des Schwerpunktes
zu unsicheren, noch mehr als bisher auseinander strebenden und gegeneinander
wütenden Gebilden. Ewiges Nur-Ucht befriedigt nicht, wo es Stehenbleiben
predigt, während alles rings im Wechsel kreist. Warum soll nur das sinnlich
Nahe vergänglich und daher ein Gleichnis sein und sein himmlisch verklärtes
Abbild mehr bedeuten als ein neuer Wegweiser? Muß man Uebersinnliches leugnen
, wenn man auch an seiner ätherisierten Phänomenik vorübergeht wie an
einem neuen Gleichnis gesteigerter Vergänglichkeit und weiterdenkt bis zu
jenem Weltende, wo jede Gerade zum Bogen wird, wo alles Sein und auch alles
Uebersein umgekehrt wird zu seinem äußersten Gegenpol, zum Negativ und
Spiegelbild, zum völligen Nichtsein?

Zum Weltbegriff gehört nicht nur räumliches, zeitliches, sinnliches, seelisches
Begrenzen und Vorstellen, sondern auch das Unvorstellbare, Unsagbare, Nicht-
seiende, Vergessene, Werdende, Unbewußte. Nur was sich zum Nichts erniedrigt,
wird erhöht zum All. Nur was vergehen will, um wiederentstehen zu können,
vollendet und vervielfältigt das große Vorbild des ewigen Weltkreises im Ich.
Ohne freien Willen zum Nichtsein keine Willensfreiheit zum Sein. Dazu gehört
nicht nur Abbiendung bewußten Seins durch Schlaf und Vergessen, sondern auch
entsprechende autosuggestive Beeinflussung tieferer unterbewußter Stoffwechselprozesse
, in denen sich die Stammesgeschichte bis zum Urwerden wieder verkörpert
. Den naiv-primitiven Widerstand stammesgeschichtlicher Urglieder gegen
alles Verwandeln und Vergehen zu brechen bis zur Dematerialisation ist Aufgabe
einer Bewußtheitsreife, welche die Welt im Nichtsein vollenden und nicht
Reste im Sein zurücklassen will, die von den Wächtern der Tagesbewußtheit
verlassen, in schlafender Leiblichkeit abgetrennt und hilflos jedem fremden Zugriff


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