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ein Buch*) über ihre dortigen Erlebnisse verdanken, das wohl einzig dasteht in den
interessantesten Schilderungen der Neuzeit: sie schreibt:

„Die Orientalen stellen ihre Kenntnis der Mystik, Philosophie oder Seelenkunde
nicht zur Schau, und es ist sehr schwer, sie darüber zum Sprechen zu bringen. Ein
Reisender kann bei einem Lama zu Gaste sein, monatelang mit ihm Tee trinken
und fest überzeugt von der völligen Unwissenheit seines Wirtes abreisen, obgleich
es diesem ein leichtes gewesen wäre, dem Fremden nicht nur alle seine Fragen
zu beantworten, sondern ihm auch viel nie geahntes Neues zu« lehren. Die Tibeter
glauben nicht an die Willensfreiheit, und die Welt mit all ihren Erscheinungen
ist ihnen nur ein Blendwerk unserer Einbildungskraft Das Kloster Dzogstschen
gilt seit langem als der Mittelpunkt des Unterrichts in den Geheimlehren der geistigen
Schulung... Die sonderbarsten Gebräuche kann man bei einer unheimlichen
Art von Mysterienspiel, Tschöd genannt, beobachten, clas nur von einem einzigen
Schauspieler, dem Zauberer selbst, aufgeführt wird. Es kommt vor, daß die Schüler
über solchen Uebungen wahnsinnig werden oder gar tot hinfallen, mit so viel grausamer
Kunst ist das Entsetzliche ausgeklügelt und gehäuft . Um leichtgläubigen und
feigen Schülern die Furcht vor den Dämonen zu nehmen, wird zu Mitteln gegriffen
, die auf den ersten Blick nur lächerlich scheinen können, in Wirklichkeit
aber grausam und abscheulich sind, wenn man die Geistesverfassung der betreffenden
Jünglinge bedenkt. Sehr begreiflich, daß der Schüler nach fortgesetztem Besuch
der Spukorte, nach kühner Herausforderung der Dämonen, und wenn er
ihnen gemäß der Beschwörungsformel seinen Körper wieder und wieder umsonst
zur Speise angeboten hat, am Ende an dem Dasein von Wesen, die sich nie
zeigen, zu zweifeln beginnt. Ich fragte mehrere Lamas danach, und einer von
ihnen, ein Getsche (Doktor der Philosophie) aus Dirdschi, antwortete mir: ,Diese
Ungläubigkeit kommt allerdings vor und ist sogar eigentlich das von den mystischen
Lehrern erstrebte Ziel(!). Aber erreicht es der Schüler zu früh, so Dringt
er sich selbst um die Früchte jenes Teils der Schulung, der ihn furchtlos machen
sollte. Der Jünger muß einsehen lernen, daß Götter und Dämonen für den Gläubigen
wirklich da sind und auch die Macht haben, dem, der sie anbetet oder
fürchtet, je nachdem Gutes oder Böses zu erweisen/ — Ich wage dagegen keinen
Widerspruch, denn ich habe mehrere Beispiele dafür gehabt, daß es tatsächlich
so ist. Aber muß man wirklich alles, was bei diesen Vorgängen beobachtet wird,
Sinnestäuschung nennen? Die Tibeter versichern das Gegenteil. Ich unterhielt
mich einmal mit einem Einsiedler aus Ga im östlichen Tibet, namens Kutschog
Wantschen, über die plötzlichen Todesfälle, die während der Beschwörung böser
•Geister vorgekommen sind. Er schien mir durchaus nicht abergläubisch, und so
glaubte ich ihm aus der Seele zu sprechen, als ich sagte: ,Wenn Menschen dabei
wirklich sterben, so tun sie das nur aus Furcht. Was sie sehen, ist ja nur die
Verkörperung ihrer eigenen Gedanken. Jemand, der nicht an Dämonen glaubt,
wird auch niemals von ihnen umgebracht werden!' Der Klausner antwortete mit
sonderbarem Tone: »Meinen Sie denn etwa auch, daß jemand, der nicht an Tiger
glaubt, auch nicht von ihnen zerrissen werden könnte, wenn er sich ihnen auf
Sprungweite näherte?' ...Und er fuhr fort: ,Mit der Verkörperung der seelischen
Vorstellungen ist es eine geheimnisvolle Sache, mag sie nun bewußt oder unbewußt
vor sich gehen. Was wird aus diesen Gebilden? Zuweilen entgleiten sie uns
gerade so, wie das ott bei unseren leiblichen Kindern geschieht. Ob sie dann nicht
ebenfalls plötzlich, oder auch nach und nach, ihr eigenes Dasein führen wollen?
Man muß sich wohl hüten, leichtsinnig ,Kanäle' (in die Welt der Dämonen) zu
eröffnen. Die meisten Menschen ahnen nicht, was alles in der Abgrundtiefe des
Weltalls enthalten ist, die sie unbesonnen anbohren/-----

Zu solchen und anderen zahlreichen Episoden im Buche Alexandra David-
Neels läßt sich nur hinzufügen: wer offene Augen hat für das, was uns gespenstig
und nur an seinen Wirkungen wahrnehmbar umgibt, den muten solche Begebnisse
nicht an wie ein Stück „finsteren Mittelalters", nein: unser heutiges abendländisches
Weltbild des naiven Materialismus erscheint dagegen wie eine Erinnerung
an die Steinzeit!

*) „Heiligt- und Hexer von Alexandra David-Neel, 296 S., soeben erschienen
im Verlag F. A. Brockhaus, Leipzig.


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