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358 Zeitschrift für Parapsychologie. 8. Heft. (August 1932.)
Während nun der Talmud versucht, diese Weisheit auf dem Wege der Dialektik
zu erschöpfen, sucht die Kabbala und damit auch der Sohar den Weisheitsgehalt
durch Bilder, durch Symbole darzustellen. Hinter dem Sinn der Worte
lauert ein tieferer Sinn. Schon die Einkleidung des Sohar tut dies kund:
Das ganze Buch stellt sich dar als die Unterhaltung zehn jüdischer Rabbis,
die alle gleichermaßen um die Erfassung des Geheimnisses der Thora bemüht
sind. Damit ist die Parallele zu den zehn Sephiroth gegeben, den zehn aus
dem Ungeoffenbarten stufenweise herabsteigenden Offenbarungen Gottes. An
ihrer Spitze steht Rabbi Schi'mon, der in seiner hervorragenden Rolle gewissermaßen
die Sephira Kether, die unmittelbare erste Emanation aus dem
unergründlichen Ain Suph, repräsentiert. Als letzter der zehn Weisen wird
Rabbi Jesse genannt, der damit die Stelle der zehnten Sephira Malchuth ein*-
nimmt, der zur materiellen Welt verdichteten untersten Emanation. Nun ist
es üblich, daß die Stufenfolge der zehn Sephiroth als Baum dargestellt wird,
wobei Malchuth als Wurzel, Kether als oberste Baumkrone abgebildet werden.
Damit ergibt sich überraschenderweise das Bild, daß Jesse der Wurzel entspricht,
da er ja Malchuth repräsentiert. Aus dieser Wurzel soll der Baum wieder zur
höchsten Höhe emporwachsen; damit ist auch die Sinnverbindung gegeben zu
Jesse, dem Vater Davids, und damit dem Stammvater der jüdischen Königsdynastie
, auf die ja auch im Evang. Matthäi Christus selbst zurückgeführt wird.
Schon diese Andeutung mag den mehrfachen Sinn, der der Mehrzahl der
Unterhaltungen der zehn Rabbis zugrunde liegt, illustrieren. In der Verhüllung
liegt Geoffenbartes und in der Offenbarung ruht noch das Geheimnis. So verstehen
wir, daß der Sohar erzählt: Rabbi Schi'mon saß und weinte und sprach:
„Wehe, wenn ich Geheimnisse enthülle und wehe, wenn ich sie nicht enthülle.'*
Aeußerlich betrachtet stellt sich der Sohar als eine völlig unzusammenhängende
Reihe von Gesprächen dar. Meistens steht ein Bibel wort zur Diskussion
, dessen scheinbare Widersprüche aufgelöst und dessen geheimer Sinn
ergründet werden soll. Manches ist beim ersten Durchlesen überhaupt unverständlich
. Beziehungen knüpfen sich in dem systemlosen Durcheinander
nach allen Seiten. Dei Uebersetzer hat sich bemüht, durch eine Aufreihung
der Gespräche nach bestimmten Gesichtspunkten etwas wie Ordnung in das
Dickicht zu bringen. Aber der Sohar spottet wie jede wirklich mystische Schrift
dof Ordnung. Seine Bilder wollen im Leser irgendeine Saite zum Erklingen
bringen. Gelingt es, ist der Zweck erreicht, das Bild wirkt im Leser weiter
und wird in ihm lebendig. Wohl mag es vorkommen, daß es stumpf an ihm*
abprallt. Zu groß ist die Kluft zwischen den Sprechern des Sohar und unserem
heutigen Menschen, der ganz andere Formen des Denkens gewohnt ist.
Es ist ja auch gar nicht möglich, auf diesem Wege das Wissen um die letzten
Dinge, das Erfassen der Weisheit der Thora zu erreichen. Auch ein Kommentar
, und wäre es noch so geschickt als Brücke zwischen jenem Empfinden und
unserem Denken konstruiert, würde uns im Verständnis des Sohar nicht weiterbringen
.
Am ehesten mag man dieses Buch mit einer Bildergalerie vergleichen:
Mancher geht hinein, wird durch die Menge der Bilder verwirrt und flieht.
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