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BernouIIi: Die Geheimlehre der Kabbala im Sohar.
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Mancher sucht sich durch den Inhalt der Bilder belehren zu lassen, sieht
aber sehr bald ein, daß er dabei kaum auf seine Kosten kommt. Mancher
sucht die Bilder aus ihrer historischen Gegebenheit heraus zu begreifen, und
wird das Bestreben haben, über deren Zustandekommen eine wissenschaftliche
Ansicht zu entwickeln. Manche werden von den meisten der Bilder kaum
berührt, dafür werden einzelne sie derart bewegen und erregen, daß die Erinnerung
daran sie durch das ganze Leben begleiten wird.
Nun erscheint mir das Wesentliche am Sohar zu sein, daß diejenigen Bilder
, die auf den ersten Blick einleuchten, sich zu einem einheitlichen Weltbilde
zusammenfügen, zu jenem Weltbilde, das ja ausgesprochenermaßen
diesem Buche zugrunde liegt: dem Emanationssystem der Kabbala. Als System
betrachtet, scheint es freilich nur eine dürre Aneinanderreihung von nicht
einmal klar definierten philosophischen Begriffen; in seinem Wesen erfaßt,
ist es die Enthüllung des Geheimnisses des Gegensatzes von Gut und Böse, des
Geheimnisses von Gott und Welt, von zeit- und raumloser Unendlichkeit und
zeit- und raumgebundener Wirklichkeit. Ueber allem schwebt unberührt und
unbegreiflich das ewig Jenseitige, das Ain Suph, an dem jedes Begreifen, jede
Spekulation wie ein stumpfes, schwaches Instrument abgleitet. Ebenso unfaßbar
erscheint jener Punkt des In-Erscheinung-Tretens des Absoluten; hier erst
setzt der Versuch der Kabbala ein, ahnungsweise die Zusammenhänge des sich
immer in tiefere Ebenen hinein verlierenden, mannigfach gespiegelten, scheinbar
gelegentlich ins Gegenteil verkehrten Abstieg9 der göttlichen Kräfte zu
verfolgen. Damit irgendwo eine Rückkehr zum Ursprung einsetzen kann, muß
jene Stufenfolge der niedersteigenden Wellen der göttlichen Energie auf einen
nicht zu überwindenden Widerstand treffen, eine Mauer, die einem Weiterschwingen
jener Energien einen unerbittlichen Widerstand entgegensetzt Jene
Energien zerschellen nicht an jener Mauer, aber sie durchdringen sie auch
nicht. Sie werden gleichsam von ihr zurückgeworfen, in ihrer Richtung ins
Gegenteil verkehrt, vom zentrifugalen Abstieg zum zentripetalen Wiederaufstieg
gezwungen.
Diese äußerste Grenze, diese letzte Mauer der Welt, ist das notwendige
Gegenteil des Urquells aller Bewegung und Energie. Es ist nicht das Böse.
Es ist das Gottferne, der ewige Reflektor, die Grundlage der Erlösung, nämlich
der Möglichkeit des Wiederaufstiegs. Als solche von der Erlösung ausgeschlossen
. Gefahr dem in letzter kaum merkbarer Bewegung sich nähernden, kaum
noch leuchtenden Strahle göttlicher Energie, der versucht sein könnte an
ihrer festen Oberfläche Halt zu suchen. Rettung dem scharf aufprallenden
beschwingten Strahl, der nach kaum erfolgtem Aufprall nun ebenso heftig
nach oben lodert, wie er vorhin nach unten leuchtete.
Das sind alles Bilder, die auftauchen beim Versuch, in die Welt des Sohar
einzudringen. Der gelehrte Kabbaiist mag sie als nicht in allen Teilen zutreffend
verwerfen. Der Philosoph mag sie als unpräzise Analogien belächeln,
der Gläubige mag sich von ihnen, als von müßigen Spekulationen abwenden.
Für den aber, der sie zutiefst empfunden hat, sind diese Dinge Wiederschein
letzter und tiefster Erkenntnis.
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