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mehreren Tagen nichts, während die Kinder nur mehr von Tee und Zwieback
gelebt hatten, der jetzt auch ausgegangen war. Die Kinder litten buchstäblich
Hunger. Wir versorgten sie aus unseren Vorräten mit dem Nötigsten, und icH
ließ S-O-S-Rufe ergehen an die in der Nähe befindlichen Schiffe: sendet sofort
Lebensmittel, dringendste Not!
Ich war über diesen Traum zwar erregt, ärgerte mich sogar über ihn, dachte
aber über die Möglichkeit seiner Entstehung nicht weiter nach und schlief bald
wieder ein. Sodann hatte ich einen zweiten Traum. Wir waren auf einem großen
Gute zu Besuch, es war eine große Halle im Parterregeschoß mit Schiebefenstern
und Schaltern, wie in einer großen Wirtschaftsküche. Meine Frau und meine
Kusine (aus dem ersten Traume) waren zugegen. Wir hörten, daß die vielen
Kinder auf dem Oute Hunger litten. Und da wir zufällig eine große Anzahl
von Tafeln Schokolade bei uns hatten, so verteilten wir diese an die Kinder,
die heißhungrig darüber herfielen. Wir waren mit dem Verteilen sehr vorsichtig,
wir brachen die einzelnen Tafeln in viele kleine Stückchen, damit jedes Kind
etwas bekäme, auch damit sie nicht zu schnell essen sollten. Schließlich blieb
aber noch eine ganze Tafel übrig, die meine Kusine in zwei Teile zerbrach und
den Eltern der Kinder gab.
Als ich aus diesem Traume erwachte, schlief ich nicht wieder ein. Das
sofort einsetzende klare Bewußtsein von der Duplizität beider Fälle, die auf der
gleichen Basis beruhten: „Kinder in Not", machte mir deutlich die Entstehung
beider Träume klar: die für die Kinderhilfe tätige Sammlung der Krankenschwester
im Cafe hatte beide Träume ausgelöst. Ich hatte mir ja, wie erwähnt, den)
Vorgang — vermutlich doch, we«l er mir peinlich war — nicht ins Oberbewußtsein
kommen lassen wollen. Das zeigt auch mein Versuch, die Sache ins Scherzhafte
zu ziel en, weil ich wollte, daß man sie nicht tragisch nehmen solle.
(Andrerseits aber wird oft grade ein Scherz zu dem ausgesprochenen Zwecke
gemacht, um etwa aursteigende ethische oder moralisch-soziale Hemmungen /u
unterdrücken.) Dennoch genügte die kaum eine halbe Minute an uns vorüberziehende
Erscheinung der Sammlerin, die nur mit den Augen, aber kaum mit
dem ganzen inneren Bewußtsein erfaßt wurde, um meine Stimmung gänzlich umzuwerfen
, ohne daß mir dieses im Cafe selbst zum Bewußtsein gekommen wäre.
Würde mir jemand im Cafe gesagt haben: Ihre Stimmung ist vielleicht durch die
vorübergehende Sammlerin verdrängt worden, so würde ich dieses mit aller Bestimmtheit
nicht nur abgelehnt, sondern diese Erklärung geradezu ins Lächerliche
gezogen haben. Denn obwohl meine Einstellung zu den Dingen der Umwelt
stark zur Kritik, zur Satire, auch zur Opposition neigt, so ist man ja doch
seit den Kriegsjahren solche Sammlungen zu sehr gewöhnt, um an ihnen irgendeinen
Anstoß ethischer Art zu nehmen. Ich empfand im Cafe nur blitzartig den
seltsamen Kontrast, wie ich ihn ja geschildert habe, und war, im Bewußtsein,
daß dieser Kontrast peinlich, ja unangenehm sei, durchaus bestrebt, keine Wirkung
dieses Kontrastes irgendwelcher Art aufkommen zu lassen. Dennoch aber
wiikte die Episode — auf dem Umwege über den sympathischen Nervenkom-
plex — mit solcher Tiefe und Heftigkeit (nur auf mich aus unserer Gesellschaft),
daß meine gute Stimmung völlig zur Depression umgestimmt wurde. Und der
momentan nur mit den Augen empfangene Vorgang blieb im Unterbewußtsein
tief stecken, und das Unterbewußtsein schuf nun die zwei ähnlichen
Träume, die nur ihrem Milieu nach verschieden, ihrem ganzen inneren Kernpunkte
nach aber einander völlig identisch waren, da sie das deutliche Motto
..Kind in Not" trugen.
Ich habe den Vorfall, nach den noch in der gleichen Nacht gemachten Stenogrammen
der Träume, einige Tage später niedergeschrieben, weil er mir in
zweierlei Hinsicht recht interessant erscheint. Einmal für die Entstehung von
Mißstimmungen, welche die Mitwelt gemeinhin als „Launen" auszulegen pflegt,
ohne daß wir selbst zu erkennen vermögen, worauf diese Mißstimmung beruht.
Es kann z. B. ein bloßes, leicht hingeworfenes, Wort sein, welches gar nicht
einmal aus der eigenen Gesellschaft, sondern etwa vom Nachbartische aufgefangen
sein kann, welches eine solche Mißstimmung zu erzeugen vermag.
Im vorliegenden Falle war es der gewaltige Kontrast, der den Stimmungsumschwung
auslöste. Zunächst der durch das Auge empfangene Anblick des Bildes
des abgehärmten Kindes, dann der ganze Zusammenhang mit der Krankenschwester
in der Umgebung der lustigen Karnevalsgesellschaft. — Sodann aber
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