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Kleine Mitteilungen.

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konnte sich aber nicht sogleich aufraffen, sondern sank im selben Moment in
einen traumähnlichen Zustand, in dem er in visionärer Klarheit den ganzen Ablauf
seines bisherigen Daseins von dem ersten Stadium des Bewußtseins, seiner
Kindheit, seinen Kämpfen, seinem Eintreten in die literarische Weit usw. von
neuem erlebte.

Wieder ertönte das Anschlagen der Glocke. Der Dichter fuhr augenblicklich
auf, in der sicheren Annahme, seine Zeit über Stunden hinaus verschlafen zu
haben. Er eilte ans Fenster, öffnete es und erblickte den Flurhüter, der soeben
im Begriff war, das Haus zu verlassen. Auf die Frage des Dichters, wann jener
zum ersten Male an der Glocke gezogen, erhielt er folgende Antwort: „Ich habe
die Glocke nur einmal, und zwar soeben, geläutet."

Der Zeiger der Uhr stand aut 4. Hauptmann mußte sich zu seiner großen
Verwunderung überzeugen, daß er in dem Bruchteil der Sekunde, der zwischen
dem ersten Anschlag der Glocke und dem zweiten Nachhall gelegen, die ganze
Fülle seines bisherigen Lebens in seinen kleinsten Einzelheiten erlebt hatte.

Man könnte nun zwar als Skeptiker einwenden, daß der erste Anschlag, den
der Dichter zu hören vermeinte, eine reine Gehörshalluzination gewesen, wie sie
bei psychischer Bereitschaft und unruhigem Schlaf öfter, auch bei gewöhnlichen
Sterblichen, in die Erscheinung tritt. Wir wissen aber auch aus anderen Quellen,
daß das Tempo der Traumvorstellungen bei abnormen Seelenzuständen, und
zwar gerade in dem Augenblick des Erwachens, ein so ungeheuer beschleunigtes
sein kann, daß man sich wohl hüten muß, die Realität dieses Erlebnisses aus rein
vernünftigen Erwägungen heraus als unmöglich abzulehnen.

Das Traumerlebnis Gerhart Hauptmanns erinnert z. B. an einen bekannten
Parallelfall, von dem ein altes Traumbuch erzählt. Nur handelt es sich hier nicht
um eine Hausglocke, sondern um die Glocke eines Kirchspiels. A. J. J. Ratcliff
berichtet hierüber in seinem Buch „Traum und Schicksal" folgendes:

„Beim ersten Schlag der Glocke eines Kirchspiels, der die Mitternachtsstunde
anzeigte, schlief jemand ein und verfiel in einen Traum. Er brannte aufs Meer
durch, diente an Bord eines Schiffes lange Zeit und schwamm, nachdem er beim
Schiffbruch gerade das nackte Leben gerettet hatte, nach einer öden, vereinsamten
Insel. Keine Rettung schien möglich; so gab er allmählich jede Hoffnung auf, als
schließlich ein Boot in Sicht kam und ihn aufnahm. Er wurde Rädelsführer bei
einer erfolgreichen Meuterei, übernahm selber das Kommando des Schiffes und
führte es durch entlegene, a^f keiner Karte verzeichnete Meere. Endlich, dieses
Lebens überdrüssig, segelte er nach England, verkaufte das Schiff und trat in
ein Geschäft an der Küste. Eines Tages erkannte ihn jemand als Meuterer; er
wurde eingesperrt und angeklagt, zum Tode verurteilt und auf den Richtplatz
geführt; aber in der'elften Stunde, als schon die Schlinge um seinen Hals gelegt,
und er jeden Augenblick des Todes gewärtig war, wachte er mit einem Ruck
auf und hörte — den letzten der zwölf Schläge der Turmuhr."

Ins Gebiet reiner Legendenbildung gehört ein weit zurückliegender dritter
Fall, der an Ungeheuerlichkeit die soeben berichteten noch überbietet. Bei diesem
Erlebnis handelt es sich um eine Tiaumvision Mohammeds, die ihn in Gedankenschnelle
nach dem Tempel Jerusalems und der Reihe nach durch alle sieben Himmel
bis vor den Thron Allahs führte. Die Etappen dieser Luftreise werden in den
heiligen Büchern bis ins einzelnste mit umständlicher Genauigkeit wiedergegeben.

Nach einer anderen Version der Sage soll es sich hierbei sogar nicht um einen
Traum, sondern um eine wirkliche, leibliche Entrückung des Propheten gehandelt
haben. Das Wunderbarste an dieser Geschichte ist der Umstand, daß sich
das Ganze in dem Bruchteil einer Sekunde abgespielt haben soll. Als der Prophet
die Reise antrat, so berichtet die Ueberlieferung, wurde ein neben seinem Lager
stehender Wasserkrug durch einen Flügelschlag Gabriels umgestürzt. Der zurückkehrende
Prophet kam gerade noch zur rechten Zeit, den vollständigen Umfali
des Kruges zu verhindern und so das Auslaufen der Flüssigkeit zu verhüten.

Wenn der reale Wert dieser Geschichte auch gleich null ist, so beweist sie
doch, daß das ins Märchenhafte gesteigerte Tempo der Traumvorstellungen bereits
den alten Völkern eine bekannte Tatsache gewesen sein muß.

Mehr noch als das spontane Erlebnis während des natürlichen Schlafes läßt
der künstlich erzeugte Rausch eine Verschiebung der Zeitperspektiven erkennen.
Der Genuß von Opium, Haschisch oder indischem Hanf verschafft seinem Opfer
nicht nur den Eindruck einer visionären Welt, die es an Eindringlichkeit und

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