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Mattiesen: Nochmals: Der Austritt des Ich als spiritistisches Argument. 447
mich körperlich und seelisch immer leichter werden fühlte. Mein erster Eindruck
war, daß meine Beine und Arme kein Gewicht mehr hatten, dann der
Unterleib, dann die Brust. Und plötzlich befand ich mich über und zur Seite
meines Körpers, den ich am Rande des Grabes sitzen sah. Ich betrachtete
meine müde aussehende Gestalt und bemerkte sogar, daß mein Mantel mit
Erde beschmutzt war. Ich hatte die Empfindung, über meinem Körper zu
schweben in einem völligen Glücksrausch. Ich hatte das Gefühl einer großen
und leuchtenden Lebenslust, als lebte ich tausend Leben zugleich, und einer
vollkommenen Ruhe. Ich konnte mich nicht bewegen (vgl. o. Fall 5i) und
fühlte kein Bedürfnis danach. Aber ich konnte sehen, begreifen und das Gefühl
eines innerlichen und glücklichen Lebens haben. Mein Körper erschien mir wie
ein alter Fetzen, wie etwas Abgetanes. Ich dachte: Dies ist der Tod! Und doch
war ich voll Lebenslust. Ich sah den Friedhofswärter sich meinem Körper
nähern, ihn anfassen und befühlen, mich anrufen und dann davoneilen. Er
sagte mir später, daß er gegangen wäre, eine Ambulanz zu holen, und daß meine
Hände und Gesicht schon angefangen hätten, zu erkalten. Als ich ihn forteilen
sah, begriff ich, daß er mich für tot hielt, und wurde plötzlich von
Schrecken erfaßt. Dies ist der Tod, dachte ich, wie wird mein Mann ohne
mich leben? Aber ich fühlte mich so lebendig, daß ich mir sagte: Ich muß
mich in meinen Körper zurückbegeben. Ich versuchte, wieder in ihn einzugehen,
und fürchtete doch, daß ich nicht dazu imstande sein würde. Zuerst kehrte das
Gefühl der Schwere wieder, dann die Schmerzen, die kleinen Unbehaglichkeiten,
an die wir so sehr gewöhnt sind, daß wir sie nicht mehr bemerken. Schließlich
kam die Traurigkeit und das Bedürfnis zu weinen..
55. „Vor zwei Wochen hat sich diese Erfahrung erneuert. Ich las eines Abends
im Bette ein heiteres Buch, über dessen amüsante Torheiten ich vor mich hin
lachte. Plötzlich hatte ich den Eindruck, mich selbst zu verlassen, und sah
meinen daliegenden Körper mit dem Buch in den Händen, während ich mich
selbst in der Luft fühlte, sehr glücklich und mit einem Gefühl verinnerlichten
Lebens (de vie interieure). Ich betrachtete meinen Körper, fand, er sehe gut
aus, und sagte zu mir: Es ist ein Jammer, so jung zu sterben. Ich näherte mich
meinem ausgestreckten Körper und versuchte, wieder in ihn einzugehen. Sogleich
fühlte ich, daß er mich [gewissermaßen] einsog, wie ein Löschblatt oder
ein Schwamm das Wasser aufsaugt (vgl. 3, 23). Mein Mann läutete; ich erhob
mich, um ihm zu öffnen."
Neben dem Gefühl der Leichtigkeit, Ruhe und Euphorie fällt auch hier auf,
daß das Subjekt während der Exkursion sich für gestorben hält, zudem, daß es
durch dieselbe in einen Zustand mehr „innerlichen" Lebens gelangt zu sein
glaubt. Die Wahrnehmungen enthalten Einzelheiten, die aus schwachbewußten
Körperempfindungen nicht abgeleitet werden können (wie z. B. die des erdbeschmutzten
Mantels), und ausgedehnte Überlegungen beweisen, wie in so vielen
Fällen, die Klarheit des hinausversetzten Bewußtseins. Die völlige Rückverwand-
lung des Gefühlstons beim Abschluß der Exkursion ist wiederum sehr beachtenswert
.
Besonders schlagend tritt die Wahrnehmung eines normal unbekannten De-
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