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Das Markgräflerland: Beiträge zu seiner Geschichte und Kultur
23.1961, Heft 1, Müllheim Baden.1961
Seite: 199
(PDF, 52 MB)
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1961-01/0201
Da bei der zweiten in Neuenburg tätigen Hebamme sich keinerlei Zwischenfälle
ereigneten und im folgenden Jahre 1877 nur noch bei einem Kind, und zwar von
tuberkulösen Eltern, Meningitis tuberculosa festgestellt wurde, ergab sich für
Reich die logische Schlußfolgerung, daß die Tuberkulose eine ansteckende Krankheit
sei.

Diese heutzutage selbstverständliche Tatsache war 1878, als Re i c h mit seinen
Befunden an die Öffentlichkeit trat, durchaus nicht allgemein anerkannt. Rückblickend
können wir sagen, daß Reich seiner Zeit weit vorauseilte und daß die
Publikation Anschauungen entsprach, die sich erst ein halbes Jahrhundert später
endgültig durchsetzten. Um seine richtige Auffassung besser zu würdigen, wollen
wir uns nun in die 1878 herrschende Lehrmeinung der Medizin und die damaligen
Kenntnisse über die Tuberkulose zurückversetzen, die Dr. Reich zur Verfügung
standen. Die ihm bekannte medizingeschichtliche Entwicklung bewegte sich ungefähr
in folgendem Rahmen.

Im 2. Jahrhundert n. Chr. faßte Galen die Schwindsucht als ein ansteckendes
Lungengeschwür auf, das man durch besondere Diät bekämpfen könne; als Kurmittel
empfahl er u. a. Ziegen- und Eselinnenmilch. Bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts
wurde die Ansicht, die Tuberkulose sei eine ansteckende Krankheit, nicht
bestritten. Der Italiener Girolamo Fracastoro (1478-1553) vertrat als
erster die Auffassung, die Krankheitsursache liege außerhalb des menschlichen Körpers
und gelange durch Berührung in diesen. Die modern anmutende Anschauung
wurde aber nicht genügend beachtet. Der von Reich zitierte Anatom Giovanni
Battista Morgagni (1682—1771) gab zwar für die Entstehung der
Krankheit die verschiedenartigsten Gründe an, vertrat aber immer noch den Standpunkt
der Übertragbarkeit. 1784 stellte der Schotte William Cullen (1709-
1790), einer der führenden Mediziner seiner Zeit, die Behauptung auf, die Lungentuberkulose
sei nicht ansteckend. Bis in die Mitte des folgenden Jahrhunderts konnte
sich diese Auffassung unumschränkt halten; sie war während des Studienganges und
der Zeit der medizinischen Tätigkeit von Dr. Reich auf jeden Fall bestimmend.

Doch auch er hatte sicher gehört oder gelesen, daß einzelne Forscher durch Tierexperimente
zu gegenteiligen Anschauungen gelangten, „ohne noch bis jetzt zu
einem Abschluß gekommen zu sein. Hierin ist die experimentelle Pathologie der
klinischen Forschung vorausgeeilt". Wenn Reich in diesem Zusammenhang auch
keine Namen nennt, so dürfen wir doch annehmen, daß er über die meisten der
folgenden Versuche orientiert war.

Philipp Klencke hatte 1846 Impfungen von Kaninchen durchgeführt
und auf die Verbreitungsmöglichkeit der Tuberkulose durch Kuhmilch hingewiesen,
ohne jedoch irgendwelches Interesse bei den Fachkollegen zu finden. Um das Jahr
1870 häuften sich jedoch die tierexperimentellen Befunde. Jean -Antoine
Vi 11 e m i n bewies die Uberimpf barkeit der Tuberkulose, A. Chauveau die
Möglichkeit ihrer Übertragung durch den Verdauungstrakt bei Kälbern; A. Gerlach
erkannte die Infektiosität tuberkulös verseuchter Milch, L. A r m a n n i
diejenige infizierten Käses. Experimentell war man also zur damaligen Zeit schon
zu wichtigen Erkenntnissen gelangt, hatte aber den Schritt zur Nutzanwendung für
die Humanmedizin noch nicht vollzogen. Allzu mächtig war der Einfluß des führenden
deutschen Mediziners Rudolf Virchow, der 1847 eine nicht zutreffende
Theorie über das Wesen der Tuberkulose aufgestellt hatte; seine Thesen, von denen
wir hier nur die Nichtübertragbarkeit erwähnen wollen, schufen eine bis in unser
Jahrhundert anhaltende Verwirrung. Auch die von Louis Pasteur seit 1862
vertretene Keimtheorie der Infektionen konnte sich in unserem Falle erst lange nach
der Publikation Reichs durchsetzen, da der Erreger der Tuberkulose erst 1882
von Robert Koch entdeckt, jedoch unglücklicherweise als eine auf den Menschen
nicht übertragbare Bakterienart bezeichnet wurde.

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