Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., H 4688,fm
Das Markgräflerland: Beiträge zu seiner Geschichte und Kultur
52.1990, Heft 2.1990
Seite: 146
(PDF, 30 MB)
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Manfred Bosch:
Festansprache:

Meine Damen und Herren, liebe Hebelgemeinde!

In Hebels Erzählung "Der Spaziergang an den See" gerät eine kleine Gesellschaft angesichts
einer Mißgestalt, die ihr unterwegs begegnet, in einen philosophischen Disput. Es geht um den
Gedanken, ob denn nicht auch das Mißratene seinen Wert habe und gar auf ein Höchstes
verweise, das die unendlichen Möglichkeiten der Schöpfung doch auch einmal hervorbringen
müßten. Diesem Optimismus steht die Befürchtung eines anderen gegenüber: "Wie aber, wenn
der Schlimmste vor dem Besten käme und reine Arbeit machte? Der die Welt in Flammen
stecken und mit Blut und Tränen löschen wird?". Und noch eine dritte Möglichkeit wird
angedeutet: daß die Lotterie der Geschichte das Gute erst so spät auswerfen könnte, daß "das
Menschengeschlecht irgendeinmal für nichts und wieder nichts könne so dagewesen sein, wie
es ist mit seinen perennierenden Torheiten und Schmerzen, das ewige, wiederkehrende
Einerlei eines schlechten Schauspiels, das imstande sein kann, ohne Entwicklung wieder
aufzuhören, wie es anfing".

Die Aktualität dieser Erzählung, die die Offenheit des geschichtlichen Prozesses auf so
frappierende Weise demonstriert, rührt daher, daß sie keine der skizzierten Möglichkeiten mit
einem zwingenden Argument bedenkt. Doch müßte der Autor nicht Hebel heißen, wäre die
Erzählung nicht grundiert von geschichtlichem Optimismus. Am deutlichsten scheint er
hinter den beiden Sätzen hervor, die Hebel dem Doktor in den Mund legt. Sie lauten: "Alles
Schlimme ist nur Bürgschaft für das Beste", und: "die erhaltenden und rettenden Kräfte
überwiegen im großen und ganzen immer die zerstörenden".

In diesem Punkt sind wir heute um mehr als einen Glauben ärmer als Hebel. Und doch tut
das seiner Wirkung keinen Abbruch - noch in seinem Irrtum bliebe er uns näher als alle
Pessimisten, denen die Geschichte recht gäbe. Denn Hebels Werk lebt davon, daß es die große
Utopie einer rett baren und rettungs würdigen Welt vor uns hinstellt, die alle umgreift
- jeden einzelnen, denn keiner wird von ihm aufgegeben. Doch Heilsgeschichte ist es eben
nicht, was wir uns von dem Prälaten aus Hausen anhören müssen, nicht einmal literarisierte.
Obwohl er seine Figuren an einem langen Gnadenseil führt, schaut ihm der Prediger nur
gelegentlich und um ein weniges unterm Habit hervor, und niemand ist gehalten zu knien,
wenn der Hausfreund von den Wundern der Welt erzählt. Ein bißchen sieht in Hebel noch der
Seelsorger nach dem Rechten - aber seine pädagogische Utopie verlangt schon nach dem
säkularen Instrumentarium einer Literatur, die sich aus der religiösen Bevormundung ganz
befreit hat. Als Kalendermann vertraut Hebel nach alter Manier dem Gestus des guten
Vormunds; aber nie wird die erstrebte Mündigkeit des Publikums aus dem Blick verloren. Wer
als Leser hinter sich blickt, gewahrt wohl den Hausfreund dicht bei sich - aber eben doch nur
als Beistand, der zum Selberdenken mahnt. Und wenn der allwissende Erzähler ins Straucheln
kommt, weil Hebels alemannischer Schalk ihm ein Bein gestellt hat, so denkt sich der Leser
auch etwas: "...und ist dem Hausfreund auch so gangen, hat den Preußischen Krieg auch erst
angekündet, als er schon vorbei war". Allgemach findet so der Leser in ein Spiel hinein, bei
dem er mit den Möglichkeiten der Literatur Duzis macht und in dem es manches zu begreifen
gibt über die Bedingtheiten des Erzählens. Dieses Pakts mit dem Leser wegen ist Hebel von
anderen Kalendermachem seinerzeit getadelt worden - und er hat keinen Anstand genommen,
sie deswegen beim Souverän, dem Leser, zu verklagen: "alle Kalendermacher werden nach
und nach dem Rheinländischen Hausfreund aufsätzig, denn er verwöhne nur die Leute, und
mache sie meisterlos. weil er seinen Lesern über alles, was er tue und unterlasse. Rechenschaft
gebe, und mit ihnen rede".

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