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Die Ortenau: Zeitschrift des Historischen Vereins für Mittelbaden
37. Heft.1957
Seite: 60
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Immerhin, durch diese Almosenverordnungen hatte sich allmählich so etwas
wie ein Rechtsanspruch auf Unterstützung entwickelt, möge er im einzelnen Fall
auch oft fragwürdig gewesen sein und der Höhe nach auch noch so gering. Aber
dadurch war eine soziale Entwicklung angebahnt, die von der einstigen kirchlichen
Caritas und der Ordnung der Bettelvögte durch die Jahrhunderte zu der
sozialen Gesetzgebung des 19. und 20. Jahrhunderts führte. Das Wort „Almosen"
und gar das Bettelwesen im Sinne eines gesellschaftlichen Strukturelements ist
heute so gut wie ausgestorben. Heute spricht man in Fällen, wo Arme zu unterstützen
sind, von Wohlfahrt oder Fürsorge. Aber nicht nur die Worte haben sich
gewandelt, es ist mehr geschehen. Soziale Not, zumal wenn sie unverschuldet ist,
begründet heute einen Rechtsanspruch auf Unterstützung durch die Öffentlichkeit.

Diese Entwicklung ist freilich nicht von selber gekommen. Dazu waren mannigfache
Kämpfe, nicht zuletzt auch politische Kämpfe notwendig. Und hier war es
im vergangenen Jahrhundert vor allem die Arbeiterbewegung, der politische Aufbruch
des durch das Heraufkommen der industriellen Gesellschaft entstandenen
Proletariats und seiner Partei, der internationalen Sozialdemokratie, welche an
die Stelle persönlicher oder öffentlicher Mildtätigkeit, an die Stelle des Almosens,
um das man bettelte, eine soziale Verpflichtung des Staates und der Gemeinden
setzte, die rechtliche gesetzliche Voraussetzungen hatte. Auf der anderen Seite
führte die gleiche gesellschaftliche Entwicklung auch zu umfassenden Schutzorganisationen
, zu den Sozialversicherungen.

Es mag zum Schluß noch darauf hingewiesen werden, was wohl vielen kaum
bekannt sein dürfte, daß die Forderung, soziale Versicherung und eine Sozialgesetzgebung
für die arbeitende Bevölkerung zu schaffen, zum erstenmal im
Badischen Landtag vor über hundert Jahren erhoben wurde. Es war der Abgeordnete
und später geadelte Ritter Franz Joseph von Büß, Sohn eines armen
Schneiders im alten Reichsstädtlein Zell am Harmersbach, dann Freiburger Universitätsprofessor
, der 1837 in seinem berühmt gewordenen Sozialprogramm eine
„Fabrik-Ordnung" forderte: der Staat habe, so sagte Büß zehn Jahre vor Karl
Marx und dem Kommunistischen Manifest, die Pflicht, durch eine Sozialgesetzgebung
die Entstehung einer „neuen Leibeigenschaft" zu verhindern — in heutigen
Begriffen gesagt, verlangte Büß Gewerbe- und Fabrikaufsicht, Invalidenversicherung
, Ortskrankenkassen, Arbeitslosenunterstützung, Unfallversicherung,
Arbeits- und Kündigungsschutz, Arbeitszeitregelung, sozialen Wohnungsbau und
Fachschulen.

Der Ruf aus dem Badischen Landtag verklang nicht; die industrielle, technische
und soziologische Entwicklung, die Umwandlung der bäuerlichen und kleinbürgerlichen
Gesellschaft zur industriellen Gesellschaft schuf neue Formen, welche die
soziale Not einzudämmen versuchten. Heute ist der Begriff der sozialen Sicherheit
an die Stelle dessen getreten, was man einst in einer sehr bescheidenen Weise
durch Bettelvogts- und Almosenverordnungen glaubte sichern zu können.

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