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Die Ortenau: Zeitschrift des Historischen Vereins für Mittelbaden
42. Jahresband.1962
Seite: 33
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mehr verschärfte, ist jedenfalls bei Grimmelshausen nirgends zu rinden. Eher hielt
er es mit dem anderen Schlesier, dessen Sinngedichte er einmal zitiert. Logaus
resignierter Spruch:

Luthrisch, Päpstisch, und Calvinisch, diese Glauben alle drei,
Sind vorhanden, doch ist Zweifel, wo das Christentum dann sei,

entspricht wohl dem überkonfessionellen Blick auf das Wesentliche, zu dem sich
Grimmelshausens religiöses Friedensbedürfnis schließlich durchrang.

Ehe er aber zu solchem Gleichgewicht gelangen konnte, hat ihn die propagandistische
Welle der Gegenreformation erfaßt und in das Meer ihrer religiösen Betrachtungen
geworfen. Was er als seine Theologia, als die beste seiner Künste und
Wissenschaften bezeichnet, ist nichts anderes als eine Versenkung in die Lehren
der spanischen Askese gewesen. Der Münchener Hofsekretär und Bibliothekar des
Kurfürsten Maximilian, der holländische Jesuitenzögling Aegidius Albertinus, der
in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts die Schriften des Franziskaners
Antonio de Guevara, des Hofpredigers Karls V., ins Deutsche übertrug, wurde
der Vermittler. Eine seiner Schriften, den „Hirnschleifer", wird Grimmelshausen
wohl selbst besessen haben; dieses Buch taucht am Anfang wie am Ende seiner
-Schriftstellerei auf: als Quelle des „Satyrischen Pilgram" stellt es sich neben Gar-
zoni, und im „Stoltzen Melcher" (1672) ist es in den Händen des Erzählers, der
•darin alles findet, was ein erfahrener weiser Mann wissen will, „gleichsamb wie
in ein Schreibtäfelein notirt". Die Schriften des Guevara aber, die von der Nichtigkeit
und Unbeständigkeit der Welt predigen, fallen dem Romanhelden Simplicius
in die Hände, als er sich hintersinnt und daran geht, Rechenschaft über sein Leben
von sich zu fordern. Das „Adieu Welt", mit dem der Roman im fünften Buch zum
vorläufigen Abschluß kommt, ist ein Auszug aus dem von Albertinus übersetzten
Traktat über die Verachtung des Hoflebens. Das Motto: „Nosce te ipsum" ist
nicht von Delphi, sondern von Spanien aus in den „Simplicissimus" gelangt und
zu einem psychologischen Kernmotiv geworden; ja vielleicht liegt in diesem Gebot
der Selbsterforschung einer der ersten Anstöße zur romanhaften Darstellung des
eigenen Lebens.

Ein zweiter Anstoß formaler Art kam aus derselben Richtung. Im Geleit der
spanischen Erbauungsschriften erschienen die Schelmenromane, deren erster Übersetzer
gleichfalls Aegidius Albertinus gewesen ist. Im Jahr 1615 bearbeitete er den
„Gusman von Alfarache" des Mateo Aleman, der einer neuen Art von Erzählungskunst
die Bahn gebrochen hat. Ein neuer Charakter aus einer dem Roman ungewohnten
Gesellschaftsschicht tritt auf in der unheldischen Hauptperson des Picaro,
zu deutsch Landstörtzer, der aus der Hefe des Volkes stammt. Eine neue Erzählungsart
ist die Ichform, in der ein Spitzbube das abenteuerliche Auf und
Nieder seines Lebenslaufes selbst schildert. Eine neue Wirkungsart ist der Humor,
der sich mit moralisierender Betrachtung des Gaunerlebens mischt. Eine neue
Kompositionsform ist die Uferlosigkeit, denn diese Rutschbahn des Lebens hat
iein Ende, solange die motorische Triebkraft des Erzählers lebendig bleibt. Ein
Abschluß durch den Tod der Hauptperson ist ausgeschlossen, da ihre Unverwüst-

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