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Die Ortenau: Zeitschrift des Historischen Vereins für Mittelbaden
53. Jahresband.1973
Seite: 100
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau1973/0102
"(S. 58 Z. 11) do schloß sy Ir arme und ir hende umb in und huob in so vast und
druckt in an ir hercz so begirlich. Und het ir müterlich hercz so große quallen nach ym,
das sy ain ainig wort nicht mocht gelassen. Und alle, die by Ir waren wurden, schryen,
do sy das angstlich ringen sahen von der muoter. sy zugen in hin, sy zoch in herwider.
sy huoben in uff, sy zoch in nider. Sy hett in also beschlossen under Iren armen, als
sy mit ysen an in gebunden war. Sy huoben (S. 59) sy an dem toten ihesum mitt gewalt
uff und zugen sy ettwan ver mit ym nach zü dem grab, do sy den Jamer an ir sahen,
daz sy nicht erwinden wolt, do entschlossen sy ir die hend von ainander und brachen
ir die arme uff und namen ir mit gewalt den toten ihesum. Und do sy beroupt ward
irs kindes, do viel sy hin in unmacht und lag also lang in der kranckhait an alle be-
wegunge, unz das der lichnam in ain tuoch gewunden ward und in das grab geleit
ward Und der stain für das grab gestossen wart, das sy in nicht gesenhen mochten. Und
do ir engelisches gemüt wider kam und irs kindes nicht sach, da huob ain wort in Irem
müterlichen herczen, ain aller Jämerlichstu klag: ,0 du dicker herter stain, nuon
hastu mir min kint verborgen! O du hertu götlichu natur, wie möchtestu dis geliden an
dinem sun und an minem kinde? O du herter stain, (S. 60) nuon hastu beschlossen die
ere des vatters, die fröd der engel, das hail aller menschen, min ainiger trost!'"

Die erste nähere Untersuchung dieses Andachtsbüchleins nach Herkunft, Beschaffenheit
und Inhalt ist in einem Aufsatz Otto Stegmüllers enthalten. Da dieser jedoch an einem
nicht eben sehr zugänglichen Ort publiziert wurde, erscheint es angebracht, wenigstens
die Angaben zum ersten Punkt hier abkürzend wiederzugeben: „Das Buch weist kein
Titelblatt auf. Da der Schluß verloren ist, fehlen nähere Angaben über Herstellung und
Eigentümer. Dreimal gibt derselbe Schreiber am Ende eines Traktates die Jahreszahl
1464 an. Einigen Aufschluß gibt die Subscriptio hinter der Schrift 'von den zwölf rä-
ten': 'Et sie est finis huius operis per me johannem piliatoris de burgdorff anno 1464
festo petri ieiunus sum in vigilia saneti mathie - Deo gracias - Jhesus cristus Maria -
Dis buoch gehoert den seligen gottechtigen bruodern in dem entringer wald.' (. ..) Wer
war dieser Johannes Piliatoris? War er auch Pauliner? Inhalt und geistige Haltung des
Buches legen nahe, eher an die Brüder vom gemeinsamen Leben, die 'Kappenherren', zu
denken, die solche Schriften mit großem Eifer abgeschrieben und verbreitet haben."6

Stegmüllers Hinweis auf das Werk Ludolfs von Sachsen als einer vermutlichen Quelle
vermag jedoch nicht ganz zu überzeugen. Freilich hatte dieser Autor - er war, ursprünglich
Dominikaner, um 1340 bei den Kartäusern in Straßburg eingetreten, wo er im Jahre
1377 auch starb - mit seiner „Vita Jesu Christi" das vielleicht meistgelesene Buch des
Spätmittelalters verfaßt, ein Kompendium der aszetischen Literatur zweier Jahrhunderte.
Aber da die Schriften jener Zeit nicht sämtlich vorliegen, ist methodische Vorsicht geboten
bei dem Unternehmen, die heute zugänglichen Fragmente einer einst reichen Tradition
durch allzu direkte Einflußlinien voneinander abhängig zu machen; statt dessen
ist zu vermuten, daß der Schreiber gleichzeitig verschiedene Quellen (und nicht unbedingt
nur schriftliche) zu nutzen wußte. Und unrichtig, zumindest jedoch mißverständlich
ist auch die Bemerkung, hier liege eine der „literarischen Vorlagen der Pieta und
des Vesperbildes"7 vor; denn als dieser Text niedergeschrieben wurde, hatte der Bildtypus
seine Anfänge und wohl auch seine Blütezeit schon längst hinter sich.

Vielmehr ist der hier bereits vollzogene Wandel hervorzuheben, der - wäre die Absicht
dieses Aufsatzes nicht eine andere - bis ins süddeutsche Passionsspiel verfolgt werden
könnte: ein Wandel nämlich zu dramatischer Bewegung, oft bis hin zu burlesker Komik.
Die Stilzüge des seine Form sprengenden, sich auflösenden heilsgeschichtlichen Dramas
scheinen auch hier sich anzukündigen: die angeführten Sätze, die den nahezu grotesk
anmutenden Streit um den Leichnam schildern (Stegmüller zitiert eine ähnliche Stelle
über die Todesangst Jesu) haben mit mystischer Kontemplation, mit der statuarischen

6 Aus Handschriften der Rastatter Gymnasiumsbibliothek (in: „Humanitas" S. 74—82); S. 76 f.

7 Ebda., S. 77.

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