http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau1986/0454
Not und Elend auf dem Land
Die Weltwirtschaftskrise von 1929/32 in der Ortenau
Wolfgang Mathias Gall
Die sozialen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf die Stadtbevölkerung
in Deutschland sind ausgiebig erforscht und allgemein bekannt: Massenarbeitslosigkeit
, starke Einkommensverluste, Hunger und Elend'. Doch der
Blick auf das Land und seine Bewohner ist oft heute noch durch das Vorurteil
geprägt, daß es dem Bauern zu allen Zeiten besser ergeht, weil er ja seine Nahrung
selbst anbauen kann. Wie wenig diese Einschätzung zumindest für die
Zeit der Weimarer Republik mit der Realität übereinstimmte, soll der folgende
Beitrag zeigen: Not, Elend und Hunger prägten auch den Alltag im badischen
Dorf.
Land und Dorf im Abseits
Daß heute die Unterschiede zwischen Stadt und Land immer mehr verschwinden
und sich Dorf um Dorf zu Vororten expandierender Städte entwickelt, ist
für uns längst schon zur Gewohnheit geworden. Die ländliche Kultur kann
sich nur noch in Vereinen, bei Festen oder als touristische Attraktion behaupten
. Vor sechzig Jahren konnte davon noch keine Rede sein. Im Gegenteil,
zwischen Stadt und Land existierten große Unterschiede in Lebensgewohnheiten
, im gesellschaftlichen Leben, in der Einstellung zur Natur und vor allem in
der Höhe des Lebensstandards und der sozialen Absicherung.
Die Befragung älterer Dorfbewohner ergibt eine Beschreibung bäuerlichen Lebens
, das jüngeren Menschen heute kaum noch oder überhaupt nicht im Bewußtsein
ist.
Die dörfliche Biographie war von Beginn an auf die landwirtschaftliche Arbeit
ausgerichtet. Kindheit bedeutete keine — von Stadtbewohnern oft romantisierte
— „naturverbundene Idylle", sondern harte Arbeit, d.h. Mitarbeit auf
dem Feld. Die Schule konnte für Bauernkinder daher nur Nebensache sein, da
die Bearbeitung des Ackers für die Zukunft der Familie wichtiger war als Bildung
; eine Zukunft, die nur wenig Hoffnung zuließ, denn Krieg und Inflation
hatten die Lage in der Weimarer Republik verdüstert.
Bis Ende der 20er Jahre blieb ein Wohnungsmangel als Erbe des Ersten Weltkriegs
zurück2. Durch die Abtrennung der elsaß-lothringischen Gebiete vom
Deutschen Reich mußten die kleineren Grenzlandgemeinden viele Flüchtlinge
aufnehmen. Die Badische Landesregierung veranlaßte deswegen eine Erfassung
der Wohnräume und eine strenge Kontrolle von Mietverhältnissen,
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