http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau1988/0444
Auch mit dem mittelalterlichen Tugendkatalog weiß Schmid nichts mehr anzufangen
. „Zuht, trüw vnd bescheidenheit" (PvSt 5) wird zu „zucht vnd Erber-
keit" (BSO 819), „Getruwes hertze" (PvSt 9) zu „keusches hertz" (BSO 823),
und das Wort „unfuog" (PvSt 6) — im Mittelhochdeutschen .unschickliches,
höfischer Gesittung widersprechendes Tun' — wird bei Schmid zu „unzucht
vnd all Üppigkeit" (BSO 820).
Die Tugend als eine umfassende ritterliche Qualität, als gesamtmenschliches
Richtigsein, wird reduziert auf geschlechtliche Geordnetheit.
Dafür noch ein weiterer Beleg: Egenolf schildert den Ritter von Staufenberg,
ganz im Sinne hochhöfischer Vorstellungen, als einen Mann,
„der diente gern frowen
Wo er die möchte schowen
So ward er von hertzen fro" (PvSt 81—83).
Schmid macht daraus:
„Die Jungfrawschafft hielt er in Ehrn,
Kein vnzucht thet er nit begern,
Kein Frawenschender was auch er,
Ein frommer Herr was der Ritter" (BSO 878-881).
Solchen Sätzen korrespondieren bei Schmid Aussagen, die erkennen lassen,
daß er das Gebiet sexuellen Verhaltens in der gesellschaftlichen Realität eher
für ungeordnet hält.
So sagt er über den Ritter, gleich nach erfolgter Liebeserklärung an die
,Fraw'\
„Fieng an vnd redt von seltzam sachen
Vnd wolt sich neher zu jr machen.
Aber die Fraw wolt gar mit nichten
Jm willfahren in vnzichten" (BSO 1233-1236).
Vom Beilager auf der Heide ist auch bei Egenolf die Rede, aber dort ganz im
Stil der „niederen Minne", ohne jeden Anklang an Verführung und Nötigung.
Noch tiefer unter das bei Egenolf feststellbare sittliche Niveau gerät Schmid,
wenn er den Knappen angesichts der Begegnung von Ritter und Dame denken
läßt:
„mein Herr würt zu kempffen han,
Darzu darff er kein Kyriß han,
Wenn er nur hat ein guten spehr" (BSO 1063-1065).
Angesichts der allgemeinen sexuellen Verrohung ist die Ehe der einzige Ort,
an dem geordnete Beziehungen zwischen Mann und Frau herrschen können;
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