http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau1989/0502
Geschichte
Grenze ist Geschichte. Geschichte ist Eroberung, durch Krieg oder durch
List, ist Vergewaltigung. Daran muß immer wieder erinnert werden, da die
offiziellen Geschichtsschreibungen diese Gewaltakte entweder heroisieren
oder verharmlosen. Geschichte ist von oben herbeigeführte, willkürliche
Veränderung der geopolitischen und kulturellen Landschaft. Dabei spielen
Pierre Muller und Peter Müller die unrühmliche Rolle des Opfers und/oder
des Werkzeugs. Mit dieser Geschichte und den von ihr herbeigeführten Veränderungen
müssen wir nun leben. Das Rad darf und kann nicht zurückgedreht
werden.
Doch, muß Veränderung unbedingt totale Umpolung bedeuten, totalen Abbau
der eigenen sprachlich-kulturellen Identität zugunsten einer fremden?
Gibt es nicht Wege, die Veränderung der Kulturlandschaft so zu steuern, daß
sie zu einer Bereicherung wird? Wie kann dem zentralistischen Nivellie-
rungsdenken, das nur Reduktion bewirkt, Einhalt geboten werden?
Europa
Sollte deshalb unser nächstes Stichwort Europa heißen? Aber was hat dieser
Begriff nicht schon an Hoffnungen und Enttäuschungen, Utopien und Lügen
in Kurs gesetzt! Und er selbst, wie ist er zu deuten: Europa der Staaten? der
Nationen? der Völker? der Regionen? der Kulturen? der Wirtschaft?
Im französischen Sprachgebrauch sind die Konzepte Staat, Nation und Volk
praktisch identisch. Da auch die Kultur nationalstaatlich eingebunden ist,
zeigt sich auch dieses Konzept mit den anderen deckungsgleich. Ein auf solcher
Basis aufgebautes Europa wäre außer Stande, eine Integrationsrolle zu
spielen, denn das gäbe nur ein Nebeneinander von national staatlichen
Blöcken mit ihren wesenseigenen Abgrenzungen, folglich auch mit ihren nationalistischen
, wenn nicht gar chauvinistischen Reflexen.
Doch wir kommen (noch) nicht um die Wirklichkeit dieser bestehenden starren
Strukturen herum. Die Auflösung der jeweiligen Staatsmechanismen in
eine übergeordnete Struktur könnte wohl Ideen zu einem Planspiel liefern,
ihre Verwirklichung aber bleibt vorläufig noch in utopischer Ferne.
Versuchen wir es also auf einem anderen Weg. Versuchen wir es mit der Vermenschlichung
der Grenze: Der Grenze die begrenzende und abgrenzende
Funktion wegoperieren — dies im Bereich, der die abgrenzende Wirkung
am stärksten offenbart: im sprachlich-kulturellen.
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