http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau1990/0390
Das Mädchen von Oberkirch
Ein früher dramatischer Versuch Goethes zur Französischen
Revolution
Ruth I. Cape, University of California, Los Angeles
„Das Mädchen von Oberkirch" ist ein wenig bekanntes dramatisches Prosafragment
Goethes zur Französischen Revolution, das wahrscheinlich in
den Jahren 1795 / 96 entstand, aber erst 1895 in der Weimarer Ausgabe bekanntgemacht
wurde.1 Daß dieses Bruchstück noch in neuester Zeit als
„wenig aufschlußreich"2 abgetan wurde, ist verwunderlich, da bereits im
Jahre 1895 Gustav Roethe, der erste Herausgeber des Fragments, seine Bedeutung
beachtlich gut zum Ausdruck zu bringen verstand.
Wie im folgenden zu zeigen sein wird, nimmt ,,Das Mädchen von Oberkirch
" eine besondere Stellung unter Goethes Werken zur Französischen
Revolution ein, da Goethe darin den Stoff der Französischen Revolution
erstmals in der Form eines Trauerspiels zu verarbeiten suchte. Als Bindeglied
zwischen Goethes frühen, meist lustspielhaften und seinen späteren,
ernsthaften dichterischen Auseinandersetzungen mit den französischen Ereignissen
trägt es entscheidend zum Verständnis der Entwicklung von Goethes
dichterischem Schaffen nach Ausbruch der Französischen Revolution
bei. Bevor auf den Inhalt des Dramenfragments und seine Stellung innerhalb
Goethes Werken zur Französischen Revolution eingegangen wird, seien
kurz das historische Umfeld und Goethes Haltung zu dem revolutionären
Geschehen in Frankreich während der neunziger Jahre betrachtet.
Goethes Haltung zur Französischen Revolution
Arbeiten über Goethes Verhältnis zu den revolutionären Vorgängen in
Frankreich sind in der Forschung zahlreich. Dabei herrscht die Ansicht vor,
Goethe habe, zumindest nach der Hinrichtung des französischen Königs
(1793), wie die meisten deutschen Schriftsteller eine deutlich ablehnende
Grundhaltung eingenommen.3 Wie ein historischer Rückblick auf die Sekundärliteratur
seit Friedrich Gundolf (Goethe, 1920) zeigt, wurde Goethes
Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution oft als Ablehnung
oder Unverständnis interpretiert.4
Goethe war von den Vorgängen in Frankreich tief betroffen. In einem Brief
vom 3. März 1790 schreibt er an Friedrich Heinrich Jacobi: „Daß die Französische
Revolution auch für mich eine Revolution war, kannst du denken
."5 Goethe rang um ein Verständnis der Vorgänge in Frankreich. Wie er
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