Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., H 519,m
Die Ortenau: Zeitschrift des Historischen Vereins für Mittelbaden
73. Jahresband.1993
Seite: 649
(PDF, 129 MB)
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau1993/0649
Es ist mehr geworden als nur ein Einblick.
Dr. M. Ruch hat die Dokumentation feinfühlig
und zurückhaltend eingeleitet und
kommentiert, hat sie in die zum Verständnis
notwendigen historischen und sozialen
Zusammenhänge eingeordnet und ist allen
Spuren und Hinweisen nachgegangen und
nachgereist. Durch seine Hinweise erschließen
sich die Texte für den Leser in
ihrer ganzen Bedeutung, auch wenn die
Texte und Photographien allein für sich
schon eine eindringliche und erschütternde
Sprache sprechen. Es ist zu hoffen,
daß die Schulen im Ortenaukreis erkennen
, welches Quellenmaterial ihnen
hier zur Verfügung steht. Sechs Millionen
ermordete Juden - vor dieser Zahl kapituliert
jede Vorstellungskraft. Aber das konkrete
Schicksal einer Offenburger Familie
kann man aufnehmen in sein Gedächtnis
und seine Phantasie. Dieses Buch macht
es möglich.

Beim Lesen wird auch deutlich, wie tief
und fraglos die Zugehörigkeit der jüdischen
Bürger zu ihrer deutschen Heimat,
Sprache und Kultur war. 1933 zählte aber
nicht mehr, daß viele jüdischen Väter und
Söhne im Ersten Weltkrieg für Kaiser und
Reich „den Heldentod fürs Vaterland" gestorben
waren, wie jene Brüder Sigmund
und Heinrich Stern, an die auch eine Inschrift
auf dem jüdischen Friedhof in Offenburg
erinnert. 1933 schrieb Sylvia
Cohn ein Gedicht, das zeigt, daß sie sich
über ihre Lage klar war:
Umbruch (Ostern 1933)

Ich soll den gelben Fleck nun tragen
Weil ich „nur ein Jude" bin?
Ich soll Dir nicht mehr Heimat sagen,
Und klaglos in die Fremde ziehn?

Die Ausreise nach Palästina bzw. London
gelingt nur Eduard Cohn. Bevor er seine
Familie nachholen kann, bricht der Zweite
Weltkrieg aus. Sylvia Cohn sitzt mit ihren
drei kleinen Töchtern in der Falle. Esther,
durch Kinderlähmung schwer behindert,
wird zur Sicherheit in einem Münchner

Heim für jüdische Kinder untergebracht.
1939 hat ihr ihre Mutter ein Tagebuch geschenkt
. Sie führt es, bis sie mit 16 Jahren
nach Theresienstadt kommt. Sie schreibt
alles hinein, was ihr Herz an Freude und
Not, Furcht und Hoffnung und Heimweh
bewegt. Wer das Tagebuch der Anne
Frank kennt, kann sich Esthers Tagebuch
ganz gut vorstellen. Das bewegende Dokument
wurde ungekürzt in das Buch aufgenommen
. Esther überlebte trotz ihrer
Behinderung in Theresienstadt bis Oktober
1944, kam aber mit einem der letzten
Transporte nach Auschwitz. Sie wurde
dort ermorden, buchstäblich wenige Tage,
bevor dort die Todesmaschinerie wegen
der herannahenden russischen Front stillstand
. Esther starb einsam und fern von
ihrer Familie. Sie wußte nicht, daß ihre
geliebte Mutter schon im September 1942
dort ermorden worden war.
Denn Sylvia Cohn hatte sich nicht wie
viele andere aus dem Lager Gurs, in das
sie wie viele badische Juden verschleppt
worden war, ins Ausland retten können.
Es gelang nur, die beiden jüngeren
Mädchen, Myriam und Eva, durch eine
jüdische Organisation illegal auf gefährlichen
Wegen in die Schweiz zu retten. Eva
Mendelsson erinnert sich an den Abschied
. Sie war damals 11 Jahre:
„Am 13. September ging Mutters Transport
fort. Sie war 38 Jahre alt. Ihr Blick,
als meine Mutter getrennt wurde von uns
und hinter einem abgetrennten Stacheldraht
, das kann ich nicht schildern."
Auch im Lager hörte Sylvia Cohn nicht
auf. Gedichte zu schreiben wie vorher in
den glücklichen Zeiten als junge Frau und
Mutter. Schreibend bewahrte sie sich
Menschenwürde und Individualität inmitten
der qualvollen und abstumpfenden
Verhältnisse in Gurs. Es ist ein Verdienst
, daß das Buch von Dr. M. Ruch
viele dieser Gedichte abdruckt. Es ist erschütternd
, daß keines dieser Gedichte
von Haß oder Rache spricht - aber um so
tiefer treffen uns Klage und Ton dieser
Gedichte:

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