http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau2011/0318
Manfred Merker
Abb. 8: „Ovidius bis
moralizatus": ein
zweimal zensierter Ovid
(Abb. 8). Er begründete damit eine christliche Interpretation von
Ovids Metamorphosen, die bis in die Zeit des Humanismus gültig
blieb und die die antike Mythologiedichtung durch Auslassung
der als „lasziv" empfundenen Geschichten und durch allegorische
Umdeutungen auch für Christen akzeptabel machen
sollte. Da wird zum Beispiel die Gestalt der vor Apoll fliehenden
und in einen Lorbeerbaum verwandelten Daphne zur suchenden
Seele umgedeutet, der verfolgende antike Gott selbst zum Teufel.
Im vierten Buch steht der sterbende Pyramus für Christus am
Kreuz, Eurydike im zehnten für die sündige Eva. Ovid wurde
durch diese neue christliche Sichtweise als weiser Weltendeuter
fast in die Nähe der Kirchenlehrer gerückt und nachträglich so
fromm gemacht, wie er auf der ersten Abbildung zu sehen ist: als
ein lieber Märchenonkel. Ein anderer französischer Geistlicher
hatte schon hundert Jahre vor Pater Berchorius um 1250, basierend
auf einem angeblichen Fund am Grabe des Ovid, einen
Roman geschrieben, der die Bekehrung des Dichters zum Christentum
thematisiert. Dazu sei nur anzumerken, dass Ovid bereits
im Jahre 18 n. Chr. gestorben war. Dass die nackten Frauen, die
im Holzschnitt unserer „moralisierten" Ausgabe zu Beginn des
dritten Buches der Metamorphosen auf einen Felsen gelagert der
Tötung eines Ungeheuers zuschauen, nachträglich von keuscher
Hand mit einem Tintenbikini bekleidet wurden, zeigt auf besonders
eindrückliche Weise die Nachwirkung der von höchster moralischer
Autorität geadelten Christianisierung unseres Dichters,
der nur auf diesem Wege der Überlieferung für würdig erachtet
wurde.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau2011/0318