Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., ZG 4885
Die Pforte
24. und 25. Jahrgang.2004/2005
Seite: 16
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/pforte-2005-24-25/0018
Noch am Abend verfasst Jose in einem Gasthaus einen Brief an seine Mutter:
Meine liebe Mutter,

Ich schreibe Ihnen nach unserem ersten Arbeitstag, während ich im Gasthaus vor einem
großen Schoppen Bier sitze. Gestern, am Sonntag Morgen, gingen wir alle 25 im Nachbardorf
(4 km) zur Messe. Es waren recht viele Leute da; jeder singt mit, es ist viel inbrünstiger als in
Frankreich. Eine sehr lange Predigt, von der ich natürlich nichts verstanden habe. Nach der
Messe hat uns der Pfarrer gesagt, daß wir am Samstag bei einem französischsprechenden
Priester beichten könnten. Am Nachmittag haben wir uns ausgeruht, haben uns rasiert, und ich
bin baden gegangen. Nach dem Abendessen waren wir im Gasthaus (12), wohin ich jeden
Abend zu gehen gedenke. Das ist die einzige Abwechslung hier. [...] Meine liebe Mama,
schreiben Sie mir, ich flehe Sie an. Ich umarme und küsse Papa von ganzem Herzen ... Man
war hier überrascht, als man erfuhr, daß wir Studenten und nicht freiwillig hier waren. Das
wußte man nicht. Klar, daß wir auch keinerlei Papiere vorweisen mußten. Es ist Zeit, daß ich
Schluß mache. Wir werden heimgehen und schlafen. Ich denke so sehr an Sie. Die Abende sind
traurig. Bis bald, hoffe ich, Jose.21

Im Juli 1998 kommentiert Cabanis diesen Brief: Die sonntägliche Messe, die Möglichkeit zum
Beichten, das sind Dinge, die meinen Eltern gefallen mußten. Und es war wahr. Der religiöse
Eifer vieler meiner Kameraden ließ mit der Zeit nach, meiner auch. In dem Brief [...] fühlt
man, daß mein Entschluß, nur von meiner Beherztheit zu schreiben und sie dabei ein wenig zu
übertreiben, mit den ersten Arbeitstagen in der Fabrik schwand. Ich hatte das Gefühl, daß
diese Arbeit mich verblöden würde. [...] Ich wage zu glauben, daß dem nicht so war. Um so
mehr war es falsch, dies meine Eltern verstehen zu lassen. Es gibt keinen Zweifel, daß für sie
mein Seelenheil am wichtigsten war. Die Kirche in Reichweite, das war wesentlich. Ich träumte
allerdings vielmehr mit Verlangen, aber im geheimen von Aline, in die einer meiner Kameraden
verliebt war. Mit Haaren wie ein Engel, sehr hübsch, in geblümter Schürze, lächelnd,
aber zurückhaltend, bediente sie uns abends in der Gaststätte, wobei ihre Großmutter sie
unablässig überwachte, (vgl. 12) Schon bei unseren ersten Schritten in diesem Land gab sie
uns eine Vorstellung davon, was ein „Gretchen" sein konnte. Diejenigen, die ich einige Monate
später in Kenzingen traf, waren von ganz anderer Art. Sie machten mich mit dem Deutschen
vertraut.

Zuerst konnte ich so wenig Deutsch (13), daß ich „die Gasthaus" schrieb, während es doch ein
sächliches Wort ist, [...] Ein Detail erstaunte uns: Im Gemeinschaftsraum sah man immer ein
großes Hitlerbild und ein Kruzifix. Wenigstens auf dem Land. 22

Joses weitere Briefe und die Antworten seiner Eltern sollten sich in den kommenden zweieinhalb
Monaten vor seinem Umzug nach Kenzingen hauptsächlich auf die wenigen Themen
beschränken, die bereits in seinen ersten Zeilen angeklungen waren: das Verhältnis zu seinen
Eltern, seine Religiosität, seinen Arbeitsalltag, den Umgang mit seiner freien Zeit.

Elternliebe

In der Rückschau nach 55 Jahren sieht sich Jose Cabanis als zum ersten Mal in meinem Leben
entwurzelt, zum ersten Mal mir selbst überlassen, wo doch meine Mutter mich, der ich mich für
„emanzipiert" hielt, bis dahin nicht aus den Augen gelassen und auf Händen getragen hatte,

21 Cabanis, Lettres, S. 21 f.
2: Ebd., S. 23 f.
23 Ebd., S. 118.

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