Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., ZG 4885
Die Pforte
24. und 25. Jahrgang.2004/2005
Seite: 73
(PDF, 30 MB)
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Letzte Tage

Der Raum ist dunkel, feucht, riecht nach Erde und Kartoffeln. Er ist eng: Gleich neben einer
schweren, alten Holztür führt eine ausgetretene Stiege nach oben. Sie lehnt an einer Sandsteinwand
aus grob behauenen Blöcken. Reste von Putz und Mörtel rieseln aus den Fugen wie
in Sanduhren und messen die Zeit in Form von kleinen Kegeln auf dem Boden. Durch Spalten
in der Tür dringt fahles Licht von der Straße herein und zeichnet dunkle Umrisse von ein paar
Obsthorden und Körben mit Gemüse. In einem Teil des Raumes, abgetrennt durch eine Mauer,
lagert der Kartoffelvorrat auf dem blanken Lehmboden. Stroh liegt in der Ecke. Plötzlich
huscht wie ein Schatten eine menschliche Gestalt in den Kartoffelkeller und verschwindet hinter
dem Kartoffelberg, während eine andere sich hastig aus dem Dunkel bei der Treppe löst und
mit einer Horde und eilig darüber gehäuften Kartoffeln und Stroh jede Spur der ersteren verschwinden
läßt. Noch schnell die Hände an der Schürze abgewischt, und Paula findet mit
traumwandlerischer Sicherheit den am Treppenaufgang angebrachten Lichtschalter. Die
schwache Birne reicht aus, ihren an die Dunkelheit gewöhnten Augen das Ergebnis des
geheimnisvollen Vorgangs zu enthüllen, und sie ist zufrieden. Nichts verrät den im Kartoffelkeller
verschwundenen Schatten - Jose.

Die Alliierten hatten sich, den Rhein entlang, Kenzingen genähert. Wenn die drei verbliebenen
Franzosen auch nicht mehr überwacht wurden wie früher, war ihr Aufenthalt in der Stadt trotz
der Arbeitserlaubnis aus Emmendingen nicht wirklich legal. Wahrscheinlich hatte die sich in
Auflösung befindliche deutsche Verwaltung Joses Spur verloren, und er versteckte sich, um
nicht deportiert zu werden. In dieser unsicheren Lage erlebt er einsame, unruhige Tage, denn
er weiß, daß Freiheit oder Tod die einzigen Karten sind, die er jetzt noch spielen kann. Dennoch
ist er glücklich, weil er die Befreiung nahe und sich endlich von niemandem mehr
abhängig fühlt. Aber eine Denunzierung oder die Begegnung mit einem ergrimmten SS-Mann
hätten genügt, und es wäre um ihn geschehen gewesen. Daher verbirgt er sich bei Paula. Für
den Fall ernster Gefahr hat er im Kartoffelkeller das Versteck angelegt, in welchem er verschwinden
und wo Paula ihn mit einer Horde Kartoffeln und Stroh zudecken würde. Sie hatten
diesen Vorgang sorgfältig geübt; doch sie riskierten dabei ihr Leben.

Lautes Poltern an der Haustür, „Aufmachen, Polizei". Diese suchte Jose. „Der ist in Wittnau
", beteuerte Paula, und mutig und kaltblütig führte sie auch zum Kartoffelkeller, um die
Eindringlinge zu überzeugen. Unverrichteter Dinge zogen sie wieder ab; sie hatten Jose nicht
gefunden - in den Kartoffeln174, wo er sich aus Angst und zur Sicherheit weitere drei Tage
versteckt hielt.

Joses wahres Reich, sein Zimmer im Speicher bei Paula, mit Blick auf die Dächer von Kenzingen
, war über eine steile Treppe, schon fast eine Leiter, zu erreichen. Hier war er ganz für
sich alleine, ein Vogelfreier und gleichzeitig ein Verschwörer, von einer Hochstimmung erfüllt,
wie er sie niemals wieder erleben sollte. Bei Paula konnte ich mich satt essen, war ich mein
eigener Herr. Das war mein Haus, und dieser Speicher, in dem ich schlief, war für mich schöner
als alle Schlösser der Welt. Ich wußte wohl, daß das nicht dauern konnte, aber ich war auf
wunderbare Weise wieder ein Mensch geworden.175 Tagelang sprach er kein französisches Wort.
Er verließ sein Versteck, in dem er auch einige französische Bücher aufbewahrte, nur nach Einbruch
der Dunkelheit, die Mauern entlang schleichend, um mit Bonnefond, der sich ebenfalls
versteckt hielt, ein paar Worte zu wechseln oder Anna zu treffen. Wenn er sie mit Paula verErzählung
des Zeitzeugen Heinz Thaller vom 11.12.2002 und vom 20.2.2005 (In Wittnau befand sich
ein Sammellager für Fremdarbeiter).
Cabanis, Les profondes annees, S. 282.

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