Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., ZG 4885
Die Pforte
24. und 25. Jahrgang.2004/2005
Seite: 81
(PDF, 30 MB)
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Reisen bildet?

Cabanis hatte Glück: Er hat die Kenzinger Zeit, die paar Abenteuer 192 im Feindesland, wie er
sie euphemistisch nennt, überlebt und - abgesehen von der Narbe am Finger - seine unvergleichliche
Erfahrung [...] mit heiler Haut m überstanden. Was hat er von diesem 20 Monate
dauernden „Auslandsaufenthalt", von dieser ersten Trennung von zuhause mit zurückgenommen
? Nach Aussage seines Sohnes Andre war das einzige sichtbare Mitbringsel ein Zünder für
Bomben oder Granaten, wie er sie in Kenzingen angefertigt hatte und den er zeitlebens auf
seinem Schreibtisch aufbewahrte als eine stete Erinnerung an jene Tage, in denen er als
Fließbandarbeiter am unteren Ende der sozialen Leiter angekommen war. „Er empfand im übrigen
eine gewisse Art von Stolz, auf diese Weise sozusagen die Lage der Arbeiter geteilt zu
haben."1'4 Darüber hinaus, muss man annehmen, hat er einen reichen Schatz an Eindrücken und
Erfahrungen mitgebracht, die sein weiteres, noch junges Leben entscheidend prägen würden.
Wurde damals der Keim für die ihn lebenslang begleitenden Widersprüche gepflanzt? Welches
waren die Auswirkungen der knapp zwei Jahre, die sehr wichtig waren'95, wie er versicherte. Er
stellte sich diese Frage selbst: Welche anderen Narben [in Anspielung auf den verletzten
Zeigefinger] haben diese zwei Jahre in Deutschland bei mir zurückgelassen?196 Im August 1998,
zwei Jahre vor seinem Tod, beantwortete er sie am deutlichsten: Ganz ehrlich, ich war nahe
daran zu glauben, daß Deutschland, die Arbeit in der Fabrik, die Trennung von meiner kleinen,
behüteten, heilen Welt in Toulouse, der Wegfall des Vier-Uhr-Kaffees mit meiner Mutter, der Verlust
des Hauses in der Rue Darquie, wo sich seit meiner Geburt nichts verändert hatte, daß
meine plötzliche Einsamkeit inmitten von Leuten, die sich offenkundig nicht um mich kümmerten
und nur daran dachten, ihre eigene Haut zu retten, daß all dies, mitten in einem schrecklichen
Krieg, zwangsläufig, wie ich jeden Tag feststellte, „meinen Charakter verändert" hatte. Weit
gefehlt. Ich habe zwar die Prüfung gut überstanden; ich gebe es zu; aber mein ganzes darauffolgendes
Leben war so, wie ich vorher schon war, nämlich: Wie immer Sie wollen, nur nicht
großspurig, selbstsicher, herrisch oder einfach ausgeglichen, was das Ideal meines Vaters war.
Meine Erfahrung in Deutschland hat mich so zurückgelassen, wie ich es [jetzt] am Ende meines
Weges bin: hilflos. So ist das. Sollen doch andere mit sich zufrieden sein.'91

Schon früher, mit 53 Jahren, war er derselben Meinung: Ich war schon und für alle Zeit das was
ich bin.19* Wiederholt versicherte er, dass ihn seine Zeit in Deutschland nicht neu- oder umgeformt
hatte, sondern dass lediglich bereits vorhandene Anlagen und Tendenzen weiterentwickelt und
ausgebaut, betont und profiliert wurden. Diese Feststellung bezieht sich auf seine schriftstellerische
Tätigkeit ebenso wie auf seine Person. In der Tat bestimmten jene Themen, die seinen
Aufenthalt in Deutschland prägten, auch sein weiteres Leben entscheidend, wurden Grundbegriffe
seines literarischen Werkes und änderten kaum die wesentliche Richtung ihres geistigen
Gehalts. Wenn Jose in manchen Briefen erwähnte, dass seine Erfahrungen im Feindesland seinen
Charakter stärkten, so tat er dies, um seinen Eltern zu gefallen, und ganz bestimmt nicht aus
Überzeugung. Im Gegenteil: Es ist, als ob alles Geschehen und alles Lernen wenig Bedeutung
hätten und die Zeit kaum zähle, meinte Cabanis in seinem Kommentar vom März 1975, und er
schloss seinen Rückblick mit dem Satz: Ich bin wohl der Gleiche, ich erkenne mich, aber es gibt
Dich, mein Gott, Du bist meine Gegenwart, meine Zukunft und meine Ewigkeit geworden.199

Cabanis, Lettres, S. 16.

Cabanis, Les profondes annees, S. 205.

E-Mail Andre Cabanis vom 22.2.2003.

Cabanis, Petit entract, S. 38.

Cabanis, Lettres, S. 62.

Ebd., S. 94.

Cabanis, Les profondes annees, S. 195.
Ebd., S. 196.

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