Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., ZG 4885
Die Pforte
24. und 25. Jahrgang.2004/2005
Seite: 86
(PDF, 30 MB)
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samkeit, eine Anhänglichkeit, eine Selbstlosigkeit, eine Nachsicht, die ich ihnen verweigerte.
Wenn ich doch wenigstens ein unsterbliches Werk geschrieben hätte.21*

Der letzte Satz gleicht einem Hilferuf, dem Versuch, einer unbedeutenden Tätigkeit, einem
leeren Leben einen Sinn zu geben. 1998 hat Cabanis ihn niedergeschrieben. 24 Jahre früher
kündigt er sich schon deutlich an: Ich schreibe in Nollet, in genau demselben Haus, in dem ich
vor fünfunddreißig Jahren schrieb. In den vergangenen Tagen hat es viel geregnet. Morgens
stehe ich zwischen zwei und sechs Uhr auf, ich führe die Hunde aus, gebe ihnen Milch, koche
meinen Kaffee. Dieses Haus ist zu groß und leer und trostlos. Wahrscheinlich sind nur die
Häuser der Jugend heiter. Da ich keinerlei Ruhm und Größe dieser Welt wünsche, hätte ich zu
sehr das Gefühl, hier nur auf meinen Tod zu warten, wenn ich nicht schriebe. Das hier schreibe
ich nun schon seit einiger Zeit, aber zum ersten Mal ohne den Gedanken, es veröffentlicht zu
sehen und auch ohne mich freier zu fühlen, alles zu sagen, wie man glauben könnte. Vielmehr
schreibe ich es mutlos, niedergeschlagen, wo es doch in diesen letzten Stunden der Nacht schon
vorkam, daß ich mit sehr großer Freude schrieb. Jedes meiner Bücher war eine Flaschenpost,
von welcher ich nie erfahre, wer sie aufgesammelt haben wird, und die vermutlich oft verloren
ging. Der Gedanke, daß dieser Text hier von vorne herein verloren gehen wird, läßt mich nicht
frisch und munter schreiben; ich bin mir dessen bewußt. Ich höre die Wanduhr von der Diele
oben und die aus dem Salon und diese Nachtvögel, die einander rufen und sich antworten wie
damals, als ich ein kleiner Junge war, ein Jugendlicher, und dabei bin ich über fünfzig. War ich
mein ganzes Leben ein Gefangener hier? Als ich mich zu lebenslanger Gefangenschaft
verurteilte und zur Zwangsarbeit auf Lebenszeit, verstand man mich nicht; von außen kann
man das kaum verstehen. In Toulouse die Zwangsarbeit, hier das Gefängnis. Aber es stimmt:
Wenn ich mir entfliehe, kann es sein, daß ich mich beeile, schnell wieder heimzukommen, so,
als ob ich anderswo nicht leben könnte. Wenn ich dann zurückgekehrt bin, jammere ich nach
dem Tod. Und gleichzeitig fliehe ich ihn, verdränge ihn, indem ich schreibe.224

Zwiespalt

Es ist offenkundig, Cabanis' Wesen ist geprägt von innerem Zwiespalt, der sich schon bei
seinem Aufenthalt in Kenzingen in Widersprüchen, die er nie überwinden konnte, ausdrückte:
Literatur wurde für ihn Lebensinhalt und nutzlose Sucht; der Oberschicht entstammend, wollte
er Proletarier sein; die Liebe war ihm Lust und Leiden; seinen Eltern begegnete er mit Liebe
und Gedankenlosigkeit; er verlangte von sich religiöse Moral und genoss die Sinnesfreude;
Glaube und Zweifel kämpften in ihm.

Der erfolgreiche Schriftsteller, das geachtete Mitglied der Academie francaise verbringt seinen
Lebensabend allein in seinem großen, leeren Haus in Nollet, ein etwas trauriger, alternder
Mann.225 Er teilt sein herrschaftliches Anwesen mit einigen Hühnern, Enten und Hunden. Ein
Hauch von Melancholie umgibt ihn am Ende eines Lebens, das doch eigentlich - vielleicht
oberflächlich betrachtet - kaum Anlass gibt zu Bedauern oder Reue. Doch dieser Schatten auf
einem Dasein mit viel Licht verdeutlicht die allumfassende Struktur Cabanisschen Denkens,
Schreibens und Lebens: den ewigen Widerspruch, der diesen Menschen zwischen den
Extremen hin- und herzerrt, der ihn nicht zur Ruhe kommen lässt, der das Leben zum Kampf
der Gegensätze werden und alle Entscheidungen nur zu ephemeren, persönlichen Wahrheiten
werden lässt.

"'Cabanis, Lettres, S. 119 f.
224 Cabanis, Les profondes annees, S. 15 f.
Ebd., S. 132.

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