Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., ZG 4885
Die Pforte
39. Jahrgang.2019
Seite: 94
(PDF, 34 MB)
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/pforte-2019-39/0096
Brauchen wir eine neue Erinnerungskultur?

Wolfram Wette*

In diesen turbulenten Zeiten fragt man sich täglich neu: Werden die tausendfach
beschworenen Lehren aus der Geschichte jetzt endgültig preisgegeben? Wir erleben
nationalistische Bewegungen, rassistische Ausfälle, Hass, Fremdenfeindlichkeit
und Antisemitismus. In einigen europäischen Nachbarstaaten haben rechtspopulistische
Kräfte schon Regierungsverantwortung übernommen. Auch dort, wo
sie nicht an der Regierung sind, üben sie maßgeblichen Einfluss aus. Vielerorts
stellte man sich die besorgte Frage: Wie stabil ist unsere Erinnerungskultur? Was
und wer bedroht sie? Brauchen wir womöglich eine neue Erinnerungskultur?

Die Auseinandersetzung mit der Nazi-Zeit hatte in den ersten Jahren nach dem
Ende des Zweiten Weltkrieges eine Glanzphase, die heute weithin vergessen ist.
Viele deutsche Autoren widmeten sich damals der zentralen Frage „ Wie konnte
es geschehen?'' Die Diskussion bewegte sich auf einem hohen Niveau. Man
zog eine Kontinuitätslinie von Bismarck zu Hitler, ohne diese auf eine Stufe zu
stellen. Die Dominanz des Militärischen über das Zivile wurde als ein Grundzug
in der deutschen Politik erkannt, der im Nationalsozialismus kulminierte. Doch
mit der Währungsreform Ende Juni 1948 in den drei westlichen Besatzungszonen
und dem sich abzeichnenden Ost-West-Konflikt bzw. Kaltem Krieg gerieten solche
Einsichten ins Hintertreffen und verschwanden schließlich ganz. Sie werden,
wenn überhaupt, erst heute wiederentdeckt. An ihre Stelle traten Legenden wie
die Behauptung vom „Betriebsunfall der deutschen Geschichte" oder von Hitler
als „Dämon". Mit Fritz Fischers Buch „Griff nach der Weltmacht" (1961) wurden
derlei Vernebelungsstrategien erstmals aufgebrochen.

Die Erinnerungskultur, wie wir sie heute in Deutschland vorfinden, ist ein wesentlicher
Bestandteil der politischen Kultur unseres Landes. Sie fiel nicht vom Himmel
, sondern sie musste in einem langen Zeitraum gegen viele Widerstände in der
Gesellschaft errungen werden. Erinnerungskultur ist zunächst ein deutsches und
erst in zweiter Linie ein europäisches Projekt. Sie ist weder Selbstzweck noch ein
Glasperlenspiel. Vielmehr will sie den Menschen eine Vorstellung von Gut und
Böse vermitteln und damit eine politische Handlungsorientierung geben, die sich
der Humanität, der Demokratie und dem Frieden verpflichtet weiß. Erinnerungskultur
ist ein zerbrechliches Gut, das stets geschützt und neuen Entwicklungen
angepasst werden muss.

* Der Text stellt die stark gekürzte Version eines Vortrag dar, den der Verfasser zum 80. Jahrestag der
Reichspogromnacht am Mittwoch, 14. November 2018, im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Erinnern für
die Zukunft" in der Gertrud-Luckner-Gewerbeschule gehalten hat. Die Veranstaltung wurde in Zusammenarbeit
mit der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Freiburg e.V. durchgeführt.

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