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Schau-ins-Land: Jahresheft des Breisgau-Geschichtsvereins Schauinsland
116.1997
Seite: 247
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/schauinsland1997/0247
kuß auf die Stirne seines Bruders drückt/'85 Individuelle Freiheit gegen ,das Ganze'
- die geschwisterliche Gemeinschaft der Kirche, den sittlichen Kulturstaat, die Wertgemeinschaft
der Nation - kann hier gar nicht mehr gedacht werden.

Gerade durch die starke Theologisierung des Freiheitsbegriffs bzw. die Konkretion
religiöser Gemeinschaft im Leitwert Nation drohen die liberalen, an Freisetzung
des einzelnen orientierten Elemente in Schreibers Moraltheologie einem Vorrang des
sittlich „Allgemeinen", der mit der Kirche eins gewordenen nationalen Gesinnungsgemeinschaft
, aufgeopfert zu werden. Schreibers frühliberale Befreiungstheologie
spiegelt gerade in ihren utopischen Elementen ein eigentümliches Schillern zwischen
Emanzipation des Einzelnen und Suche nach neuen, harmonischen Bindungen
. Dabei ist, trotz aller Kirchen- und Hierarchiekritik, eine spezifisch katholische
Hochschätzung der Kirche unübersehbar. Im Unterschied zu den Theologen des liberalen
Kulturprotestantismus, die die ersehnte Vergemeinschaftung primär über
Gesinnung definieren und einen starken Kulturstaat zum wichtigsten Subjekt von Integration
erklären, setzt Schreiber große Hoffnungen auf die allumfassende Kirche.
Es dürfte eine reizvolle Aufgabe der zukünftigen Forschung sein, die Integrationskonzepte
der Frühliberalen auf mögliche konfessionsspezifische Elemente hin zu
untersuchen und zu fragen, ob auch Nicht-Theologen Modelle „kirchlicher Vergesellschaftung
" konzipiert haben.

Die utopische Hochschätzung „der Kirche" bezeichnet eine entscheidende Grenze
von Schreibers frühliberaler Befreiungstheologie. Daß eine kulturell komplexe Gesellschaft
etwas qualitativ anderes als die große Gemeinde von Schwestern und Brüdern
ist, deren Herzen sich öffnen, indem der „Seelenkuß auf die Stirne des Bruders"
gedrückt wird,86 und Sozialität nicht nur durch Solidarität und Nächstenliebe, sondern
auch durch Machtkämpfe, Interessenkonflikte und bleibende Antagonismen
konstituiert wird, spielt in Schreibers einseitig an Versöhnung orientiertem Weltbild
keine angemessene Rolle. Der allzu freundliche Optimismus, die harte Widerstän-
digkeit der faktischen Welt ließe sich mit gutem Willen und frommem Konsens in ein
ewiges Friedensreich freier, gleicher Brüder und Schwestern verwandeln, ermöglichte
zwar eine gleichsam unbegrenzte Dauerproduktion normativer Ideale für eine
Praxis, die den gesellschaftlichen Status quo transzendieren sollte. Aber die Fähigkeit
zu konkreter Politik, d. h> zur erfolgskontrollierten Transformation gegebener
Verhältnisse, wurde dadurch nur bedingt gestärkt. Religion bzw. Kirche zum entscheidenden
Subjekt geschichtlichen Wandels zu erklären, führte zur Vernachlässigung
anderer Faktoren historischer Bewegung, etwa des Gewichts materieller Interessenkonstellationen
, und insofern auch zu einem eigentümlich unpolitischen Wirklichkeitsverständnis
- bis hin zur frommen Flucht aus der Realität* Aber dies ist
gewiß eine Kritik, die die kleine Freiburger „Lebensweit" Schreibers aus dem Blick
zu verlieren droht. In seiner frühliberalen Befreiungstheologie spiegelt sich noch
einmal die äußerst starke Stellung der Kirche in der vormärzlichen Freiburger Stadtgesellschaft
, Zur Veranschaulichung legt es sich nahe, auf die beherrschende Stellung
des Münsters im Stadtbild zu verweisen. Wer im Schatten des Münsters theolo-
gisiert und im Medium der Theologie hier Licht zu erzeugen versucht, dem wird man
den Glauben an eine geschichtliche Allmacht von Religion und Kirche nicht individuell
zurechnen dürfen,

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