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Schau-ins-Land: Jahresheft des Breisgau-Geschichtsvereins Schauinsland
120.2001
Seite: 128
(PDF, 59 MB)
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Glauben treu. Jeden Sonntag ging sie auch mit den Kindern in die katholische
St. Katharinen-Kirche am Newski Prospekt. Diese war in der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts errichtet worden. In ihr wurden der letzte polnische König, Stanislaw
August Poniatowski (1732-1798), und der französische General Jean Victor
Moreau (1763-1813) bestattet, der auf der Seite Russlands gegen Napoleon
gekämpft hatte. Die Kirche bestand bis Ende der dreißiger Jahre. Dann wurde sie geschlossen
.31 Dies musste die Mutter nicht mehr erleben: Sie war 1931 an einer Blutvergiftung
gestorben.

Die große Politik ging an den Kindern und Jugendlichen nicht spurlos vorüber. In
Gesellschaftskunde wurde vom „faulenden Kapitalismus" und vom aufblühenden
Sozialismus gesprochen. Von den Erfolgen des 1. Fünfjahresplanes - von denen wir
heute wissen, dass sie in ökonomischer Hinsicht viel zu verlustreich waren, von der
menschlichen Seite ganz zu schweigen 32 - war viel die Rede. Die Schülerinnen und
Schüler empfanden Stolz darüber, dass die Pläne übererfüllt wurden. In Betrieben
konnten sie mit Arbeitern und Ingenieuren diskutieren; manche sprachen sogar ein
wenig Deutsch. Im Musikunterricht spielten die Lehrer hin und wieder westliche
Tänze vor, die dazu bestimmt seien, das Klassenbewusstsein der Arbeiter in den kapitalistischen
Staaten einschlummern zu lassen. Als Gegengewicht mussten die
Schüler deutsche revolutionäre Arbeiterlieder lernen und während der häufigen Demonstrationen
singen. Simeon beherrscht heute noch die Texte.

Ein besonderer Auftritt fand 1933 statt. Im Marien-Theater, dem späteren Kirow -
Theater für Oper und Ballett, wurde Georgi M. Dimitrow (1882-1949) empfangen,
der bulgarische Kommunist, der soeben in Deutschland in sensationeller Weise von
der Anklage, die Brandstiftung des Reichstages mitorganisiert zu haben, freigesprochen
und dessen Verteidigungsrede begeistert aufgenommen worden war; später
sollte er dann Generalsekretär der Kommunistischen Internationale werden. Bei
dieser Gelegenheit behandelten die Lehrer verstärkt die „Machtergreifung" der deutschen
Faschisten im Unterricht. Zur Festsitzung im Theater durften diejenigen Pioniere
, die gut gelernt hatten, in zwei Kolonnen „mit der Fahne vorne" einmarschieren
und Dimitrow sowie den Mitgliedern des Sitzungspräsidiums Blumen überreichen
. „Ich hatte nicht die Ehre, dem Genossen Dimitrow die Blumen zu überreichen,
aber ich kam auch ins Präsidium und gab sie bei jemandem ab, bei wem, weiß ich
nicht. Wir durften auch ein paar Minuten im Präsidium sitzen, sahen uns den großen
Saal an, und ich war stolz, dass ich ausgelesen wurde aus vielen. Ja, ich war stolz!"
- ein Gefühl, das uns für diese Zeit immer wieder begegnet.33

Um zur deutschen Schule zu gelangen, überquerten Simeon und seine Schwester
die Newa und gingen an einer Kirche und an einer Kaserne vorbei. Die Kirche war
alt und sollte abgerissen werden. Die Gläubigen nahmen dies nicht einfach hin, sondern
protestierten. Simeon erlebte eine solche Protestaktion mit, zu der auch „Genosse
Kirow" erschien. Sergei M. Kirow (1886-1934) war einer der großen Hoffnungsträger
der Kommunistischen Partei. Seit 1926 leitete er die Leningrader Parteiorganisation
und hatte dabei als Anhänger des Stalinschen Kurses den in Opposition
geratenen Grigori Je. Sinowjew (1883-1936) abgelöst. Er war also, bei den damaligen
Machtverhältnissen, der wichtigste Mann in der Stadt. Zugleich richteten sich
aber auch im gesamtstaatlichen Rahmen immer mehr Blicke auf ihn. 1930 war er in

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