Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., H 465,da
Schau-ins-Land: Jahresheft des Breisgau-Geschichtsvereins Schauinsland
120.2001
Seite: 129
(PDF, 59 MB)
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das wichtigste Entscheidungsgremium der Partei, das Politbüro, aufgestiegen. Obwohl
er nie einen Zweifel daran ließ, dass er hinter der Politik Stalins stand, deuteten
viele heimliche Kritiker der überstürzten, mit viel Leid verbundenen Maßnahmen
und des immer neuen „Voranpeitschens" der Massen einige Redewendungen
Kirows derart, als befürworte er eine gemäßigte, langsamere Gangart und eine
liberalere Haltung. Auf dem „Parteitag der Sieger" Anfang 1934, der das Ende des
Umbruchs proklamierte und eine verheißungsvolle Zukunft ankündigte, wurde der
populäre und allseits beliebte Kirow begeistert gefeiert. Bei den Wahlen erhielt er
ein ausgezeichnetes Ergebnis, und in internen Gesprächen wurde er als möglicher
Nachfolger Stalins an der Parteispitze gehandelt, jedenfalls aber als einer, der eine
weitere Verhärtung verhindern und die gewaltsamen Züge in der Stalinschen Politik
zurückdrängen werde. Stalin soll dies sehr aufmerksam registriert haben.34

Kirow also hatte keine Probleme, mit den protestierenden Gläubigen zu reden.
Simeon sah zu, wie er ihnen zu erklären versuchte, warum die Kirche abgerissen
werden musste. Einer der Schulkameraden wohnte im selben Haus wie Kirow. Einmal
nahm er Simeon mit und zeigte ihm die Etage. „Wir guckten aus den Fenstern
im Treppenhaus in seine Wohnung, es war so schräg gegenüber. Auf einmal nimmt
uns da jemand beim Kragen und fragt: Ja, was wollt ihr denn eigentlich bei dem Genossen
Kirow sehen? Wir drehten uns um: Es war der Genosse Kirow selbst! Ja,
kommt mal rein, wenn ihr etwas sehen wollt, dann guckt euch das eben an wie anständige
Leute. Wir kamen rein. Er sagte zu seiner Frau: Gib ihnen doch auch etwas
zu essen (er kam nach Hause zum Mittagessen). Wir saßen und konnten vor Erregung
kaum etwas herunterschlucken. Aber die Suppe hat uns geschmeckt. Und zuerst
mussten wir uns die Hände waschen, unbedingt, und dann gingen wir. Die
Hauptspeise hat er dann allein gegessen." Die Wohnung war „sehr schlicht. Ich kann
mich erinnern: Ich kam nach Hause und erzählte und sagte, also wisst ihr: Er wohnt
ebenso wie wir. Und bei uns war alles sehr einfach in der Wohnung."

Dies machte Kirows Beliebtheit aus: Dass er, soweit man das beobachten konnte,
wie die „normalen" Menschen lebte, sich nicht von der Bevölkerung abschloss,
spontan auf andere zuging und ungezwungen mit ihnen umging. Auch Frau Nadja
Dmitrewskaja hat ihn einmal erlebt. Es war während einer Pionierversammlung im
Kulturpalast des Leningrader Sowjets. Alle Pioniere erhielten ein Stück Kuchen.
Ihrem Vetter war das zu wenig, er ging noch einmal zum Büffet und schaute
sehnsüchtig auf den Kuchen. Das sah Kirow, trat zu ihm und fragte: „Also willst du
noch ein Stück? Ja, da bekam er noch ein Stück."

Am 1. Dezember 1934 wurde Kirow ermordet. Als die Kinder morgens in der
Schule eintrafen, hingen Trauerfahnen heraus. Niemand wusste, was los war. Mitten
in der ersten Stunde läutete dann die Glocke Alarm. Alle versammelten sich im
großen Schulsaal, und hier erfuhren sie, dass Kirow erschossen worden war. Simeon
ging auch, ebenso wie seine spätere Frau, in das Smolny-Institut - eine ehemalige
Lehranstalt für adlige Mädchen, 1917 während des Oktoberumsturzes Hauptquartier
der Bolschewiki, dann Sitz der ersten Sowjetregierung, anschließend der Leningrader
Parteiorganisation -, wo der Sarg aufgebahrt war. „Schrecklich kalt war es. Alle
haben geweint." Von Kirow blieb nur Gutes im Gedächtnis.

Aufmerksam verfolgten Simeon und seine Mitschüler den nun folgenden Prozess

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