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Schau-ins-Land: Jahresheft des Breisgau-Geschichtsvereins Schauinsland
120.2001
Seite: 130
(PDF, 59 MB)
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gegen den Attentäter. Sie fassten auf, dass hinter dem Mörder eine große feindliche
Organisation stehe, „die die Sowjetmacht zerrütten, vernichten, abschaffen" wolle.
An der Spitze stehe Lew N. Trotzki (1879-1940), der 1917 die Aufstandsorganisation
geleitet hatte, von Lenin als sein geeignetster Nachfolger angesehen worden,
aber im Machtkampf Stalin unterlegen war. 1929 hatte er die Sowjetunion verlassen
müssen; jetzt lebte er in Mexiko. Als Kind hatte Simeon von den Auseinandersetzungen
in den zwanziger Jahren nicht viel verstanden. Nur eines wusste er: „Trotz-
kist" war ein übles Schimpfwort. „Wenn man etwas Unangenehmes sagen wollte,
dann sagte man: Ah, du Trotzkist."

Nun also galt Trotzki als Hauptfeind der Sowjetmacht, der sich zum Handlanger
der kapitalistischen und imperialistischen Mächte gemacht habe und auch vor Mord
nicht mehr zurückschrecke. Schon damals gingen Gerüchte um, Stalin selbst habe
mit Hilfe der Geheimpolizei den Mord an Kirow inszeniert, zumindest vorher davon
gewusst. Die genauen Umstände sind bis heute nicht endgültig aufgeklärt. Sicher ist,
dass die Geheimpolizei in die Angelegenheit verwickelt war. Möglicherweise spielten
auch private Umstände Kirows eine Rolle. Wie auch immer: auf jeden Fall nutzte
Stalin den Mord zielbewusst für seine Zwecke aus, seine unumschränkte Macht zu
festigen sowie seine tatsächlichen und potentiellen Gegner zu beseitigen.35 Mit der
Ermordung Kirows wurde die unvorstellbare Terrorwelle eingeleitet, die die Sowjetunion
überschwemmen sollte. Nicht nur zahlreiche Altbolschewiki, Funktionäre in
gesellschaftlichen Organisationen, im Militär, in Betrieben und Institutionen, „bürgerliche
Spezialisten", Angehörige bestimmter Nationalitäten oder Emigranten waren
betroffen, sondern fast in jeder Familie hielten die Verhaftungen Einzug. Millionen
Menschen wurden, meist aufgrund willkürlicher Verdächtigungen oder Denunziationen
, eingesperrt, gefoltert, deportiert oder erschossen. Ausgangspunkt dieser
Verbrechen war wohl das Streben nach Machtsicherung und -ausweitung, nach Ausschaltung
aller nur möglichen Kritiker, überhaupt nach Disziplinierung der Bevölkerung
, nach einer Legitimierung der Politik, indem man Sündenböcke für Fehler an
den Pranger stellte. Die freiwerdenden Stellen und Positionen sollten mit absolut
loyalen und gehorsamen Menschen besetzt werden. Aber in der Konkurrenz der Apparate
, wer am wachsamsten „Schädlinge" und „Verschwörer" entlarvte, und in den
Möglichkeiten, die sich durch Denunziationen für den eigenen Vorteil eröffneten, gewann
der Terror eine Eigendynamik, die keiner rationalen Strategie mehr folgte.

Davon konnte Simeon nichts ahnen - auch nicht, dass der Terror seine Familie in
Mitleidenschaft ziehen würde. Die damalige Atmosphäre ist Simeon Dmitrewski
noch sehr bewusst. 1937 war er als Sechzehnjähriger in der achten Klasse. „Jeden
Tag hörten wir: Aha, der weint, also ist der Vater nicht mehr nach Hause gekommen.
(...) Wenn jemand auf einmal fehlte, dann dachten wir zuallererst nicht, dass er
krank geworden ist, sondern dass er wegmusste. Das war schrecklich. Und in den
Häusern - also unser großes Haus (...)-, wir waren Kinder, und plötzlich waren die
weg. (...) Alles das bedrückte, und das hing so über der ganzen Stadt, über uns, und
drückte die Gemüter sehr."

Und dann, am 17. Oktober 1937, mitten in der Nacht, klingelte es „so aufdringlich
, ununterbrochen" an ihrer Wohnungstür. Vater öffnete, drei Männer standen da.
Einer blieb an der Tür, die beiden anderen zeigten einen Durchsuchungsbefehl und

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