Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., H 465,da
Schau-ins-Land: Jahresheft des Breisgau-Geschichtsvereins Schauinsland
120.2001
Seite: 136
(PDF, 59 MB)
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namens von Michail Dmitrewski. Und dass er als Seemann die Verwandten habe
treffen wollen - daran kann er sich nicht erinnern. Er glaubt, dies klinge eher wie
eine verschlüsselte Verabredung. War der Brief also eine Provokation? Es könnte
durchaus sein: Nicht nur die Bitte um Kleidung, auch der Hinweis auf ein Erbteil auf
der Sparkasse, der Wunsch nach einer Flinte oder die Mitteilungen über ihre materielle
Situation hätten, je nach der Antwort der Verwandten, als Anklage auf illegale
Verbindungen ins Ausland, illegales Vermögen im Ausland, verschlüsselte Nachrichten
über Waffen und Treffen genutzt werden können. Auf der anderen Seite sind
die Handschriften durchaus als diejenigen von Sascha und Senja zu erkennen - das
bestätigt Simeon Dmitrewski ausdrücklich -, wären also täuschend ähnlich nachgemacht
. Auch die Sprache von Deutschschülern dürfte recht gut getroffen sein. Und
die Einzelheiten über die Lebensverhältnisse oder über die Springerle der Großmutter
würde eine höchst gründliche Recherche voraussetzen. Sollte sich der Geheimdienst
eine derartige Mühe gemacht haben, um in einem an sich unwichtigen Einzelfall
ein „Beweisstück" zu besitzen? Ausgeschlossen ist es nicht, denn bei einer
„günstigen" Antwort hätte sich leicht ein neues Spionagenetz rekonstruieren lassen,
um den Terror zu legitimieren. Aber selbstverständlich ist es auch nicht. Es lässt sich
nicht mehr feststellen, ob Onkel Albert damals geantwortet oder gar die Kleidungswünsche
erfüllt hat. Simeon erinnert sich daran, dass bei der Wohnungsdurchsuchung
anlässlich der Festnahme des Vaters sieben Briefe mitgenommen worden
seien. Vielleicht war etwas aus Deutschland dabei. Aber offenbar konnten sie nicht
als „Beweisstücke" dienen, wie aus den Verfahrensunterlagen eindeutig hervorgeht.

Nach der Verhaftung des Vaters war eine Zeit der Ungewissheit, der Hoffnung und
der Angst um dessen Schicksal gefolgt. Bald brachte ein Milizionär Simeons Stiefmutter
- der Vater hatte noch einmal geheiratet - eine Verfügung des Volkskommissariates
für innere Angelegenheiten, dass sie sich bis zu einem bestimmten Tag im
Dezember in Bakaly, 57 Kilometer von Tuimasy in Baschkirien, zu melden habe.
Wie sie dorthin kam, war ihre Sache. Frau Dmitrewskaja war ohne Gerichtsverfahren
verbannt worden.43 Alles musste schnell gehen. Was nur möglich war, wurde verkauft
. Dann fuhr die Stiefmutter ab. In Baschkirien musste sie sich alle zehn Tage
bei der Miliz melden. Sie bekam eine Wohnung in einem Bauernhaus und auch
Arbeit zugewiesen. Später, im Weltkrieg, als Simeons Schwester aus Leningrad evakuiert
wurde, fuhr diese zur Stiefmutter, und sie blieben bis 1944 zusammen. Dann
kehrte die Schwester nach Leningrad zurück, erhielt in Wyborg eine Wohnung und
holte die Stiefmutter zu sich.

1937 wußte zunächst niemand, was aus den Kindern werden sollte. Die Eltern waren
weg, die Behörden kümmerten sich nicht um sie. Die Wohnung wurde beschlagnahmt
- so, als ob es die Kinder gar nicht gebe. Gute Bekannte nahmen sie auf: eine
mutige Tat in den damaligen Zeiten! Initiativ geworden waren deren Kinder, Mitschüler
und Freunde Simeons. Sie hatten das Problem mit ihren Eltern besprochen,
und diese sagten zu, Simeon und Sascha aufzunehmen. Simeon blieb noch in der
Schule - inzwischen in einer russischen ganz in der Nähe der alten Wohnung, die
deutsche Schule war aufgelöst worden. Aber daneben musste er nun arbeiten, um
leben und seiner neuen Familie etwas zahlen zu können. Briefträger, Straßenfeger,
Kofferträger, Bäckergehilfe, Bauarbeiter und vieles andere waren die Beschäftigun-

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