Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., H 465,da
Schau-ins-Land: Jahresheft des Breisgau-Geschichtsvereins Schauinsland
120.2001
Seite: 269
(PDF, 59 MB)
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manchmal brutalen Weigerung, sich dem tatsächlich Geschehenen zu stellen

Währenddessen schreibt der 16-jährige Freiburger Radfernfahrer hinter Bremerhaven
und Wesermünde ins Tagebuch: „Das Land vor den Städten ist still. Heide,
Moor, verkrüppelte Bäume und Torfstiche. Dann bei Cuxhaven am Ziel. Unser Zelt
steht wie am Rande der Welt."

Währenddessen notiert sich ein paar Kilometer weiter der 38-jährige Schweizer
Schriftsteller und Architekt Max Frisch auf Sylt:

„Endlich einmal zu den Baracken, die man immer von weither sieht. Ein Lager
von schlesischen Flüchtlingen. Schmutzwäsche an der Sonne, Kinder, Blechgeschirr
, Arbeitslose, ein Kaninchenstall voller Volksgenossen, ganz abseits wie die
mittelalterlichen Siechenhäuser. Man spricht nie von ihnen. Das einzige, was ich bisher
gehört habe: Sie haben wieder ein Huhn gestohlen!

Dann Teegespräch in einem gar tadellosen Landhaus, Stil der guten dreißiger
Jahre, Klinker, Truhen aus alten Bauerngeschlechtern, Berliner Porzellan, Rassehunde
. 'Die Schweiz hat doch nichts gelitten!' - 'Nein', sage ich. 'Hätte ihrer
Schweiz aber ganz gut getan' sagt die Dame. Leiden ist gesund, wissen Sie.' - Wir
sitzen in einem gar tadellosen Garten, der in den dreißiger Jahren manche Uniformen
empfangen hatte, hohe, höchste, braune und schwarze. Die Aussicht ist herrlich
. Nur ganz am Horizont sieht man die Baracken der schlesischen Flüchtlinge,
dieser Opfer eines verbrecherischen Auslandes."2

Währenddessen durchradelt unser 16-jähriger Freiburger mit seinen vier Freunden
das Ruhrgebiet, Hochöfen befeuern den Nachthimmel, der frei ist von dröhnenden
Geschwadern. Es ist romantisch, durch die stahlkochende Nacht zu fahren. Den
Betreibern dieser Öfen hatten die Amerikaner gerade attestiert, sie seien keine Nazis,
sondern Geschäftsleute gewesen. Scharf wehte der Nachtwind, er roch nach Heu und
Kaltem Krieg.

Währenddessen schrieb ein 43-jähriger Schriftsteller namens Wolfgang Koeppen
in einer Feldafinger Nacht: „Das Neueste wärmte nicht. Spannung, Konflikt, man
lebte im Spannungsfeld, östliche Welt, westliche Welt, man lebte an der Nahtstelle,
vielleicht an der Bruchstelle, die Zeit war kostbar, sie war eine Atempause auf dem
Schlachtfeld, und man hatte noch nicht richtig Atem geholt, wieder wurde gerüstet,
die Rüstung verteuerte das Leben, hier und dort horteten sie Pulver, den Erdball in
die Luft zu sprengen ... Das Zeitungspapier roch nach heißgelaufenen Maschinen,
nach Unglücksbotschaften, falschen Urteilen, zynischen Bankrotten, nach Lügen,
Ketten und Schmutz. Die Schlagzeilen schrieen: Wehrbeitrag gefordert, Vertriebene
klagen an, Millionen Zwangsarbeiter, Deutschland größtes Industriepotential. Die
Illustrierten lebten von den Erinnerungen der Flieger und Feldherren, den Beichten
der strammen Mitläufer, den Memoiren der Tapferen, der Aufrechten, Unschuldigen
... über Kragen mit Eichenlaub und Kreuzen blickten sie grimmig von den Wänden
der Kioske. Waren sie Akquisiteure der Blätter, oder warben sie ein Heer?"3

Währenddessen klettert der 16-jährige Freiburger auf den Süd-Turm des Kölner
Doms, denn „die Gotik reißt einen förmlich nach oben. Von der Galerie im Schiff
sieht man die Reparaturarbeiter, die in schwindelnder Höhe in den Gerüsten kleben".
Heftig schlägt er sich an einer Krabbe den schwindelnden Schädel an. Schönheit
kann hart sein und konkret. Aber sie erhebt. Reißt nach oben. Von dort schaut man

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